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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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der
nicht zu spät kam und keinen Kater hatte. Trat jemand ein,
blickte ich von den Online-Nachrichten auf (Panik in Whitehall,
das Pfund in freiem Fall, Unruhen in Kensington, die
Flughäfen gestürmt) und sagte: »Ach, du bist bis
zum amtlichen Endergebnis aufgeblieben? Wer hat
gewonnen?«
    Nachdem ich meine anarchistische Glaubwürdigkeit
dergestalt unter Beweis gestellt hatte, warf ich abermals einen
verstohlenen Blick auf die Ergebnisse. Die Zusammensetzung der
neuen Regierung war noch nicht offiziell, es wurde noch
darüber gestritten, doch es sah so aus, als ob sie aus
Republikanern, New Labour, True Labour und ein paar Radikalen
gebildet würde, mit den Gewerkschaftlern als offizieller
Opposition und den kleinen Parteien auf den Flügeln. Und
davon gab es einige – selbst die World Socialists (der neue
Name der SPGB) hatten genug Erststimmen zusammengekratzt, um
einen Abgeordneten zu stellen.
    Schade, dass meine Eltern das nicht mehr erleben konnten. Die
Partei hatte hundertelf Jahre gebraucht, um ins Parlament zu
kommen, doch bis zur weltweiten Mehrheit im
fünfundzwanzigsten Jahrhundert war es natürlich immer
noch ein weiter Weg.
    Anschließend beschäftigte ich mich wieder damit,
die für elf Uhr anberaumte Sondersitzung des
Exekutivkomitees zu organisieren. Zwei der Mitglieder gingen
nicht ans Telefon, es meldete sich nicht einmal ein
Anrufbeantworter: bei Aaronson (Forschung) und Rutherford
(internationale Kontakte). Hm. Anstatt mit unserer internen
Sicherheitsabteilung (denn die war allem Anschein nach von
Polizeispitzeln unterwandert) nahm ich sogleich mit mehreren
potenziellen Anwärtern auf diese Positionen Kontakt auf und
beauftragte sie mit Nachforschungen.
    Die übrigen sieben aber erschienen pünktlich auf
meinem Monitor und umgekehrt. Ich beschloss, zu Aaronson und
Rutherford nichts zu sagen, und zuckte bloß die Achseln,
als während der Präliminarien, als die
Sitzungsteilnehmer Papiere zurechtlegten, Notebooks booteten,
Platz nahmen und mich erwartungsvoll ansahen, die Rede auf sie
kam.
    »Also, Genossen«, setzte ich an, »wie es
aussieht, haben wir nicht bloß eine neue Regierung
bekommen, sondern ein neues Regime. Ihr mögt mich für
einen romantischen alten Spinner halten, aber ich glaube, das ist
der Beginn einer Revolution. Gewiss einer sehr britischen
Revolution, doch sie wird sich eine Weile hinziehen, und
Revolutionen folgen definitionsgemäß ihren eigenen
Gesetzen. Ich würde nicht darauf wetten, dass die hier die
gewollte Richtung einschlägt. Je nachdem, wie die Dinge
laufen, könnte dies eine gute oder eine schlechte Nachricht
für uns sein. Die Frage ist, wie können wir Einfluss
nehmen?«
    Die Augen auf dem Bildschirm schwenkten gleichzeitig ab, da
sich alle der Reaktionen der anderen vergewissern wollten. Ewan
Chambers, der schottische Republikaner, sprach als Erster.
    »Ich stimme mit Jon überein. In Glasgow ging es
vergangene Nacht ziemlich wild zu, etwas mehr als eine
Straßenparty und noch nicht ganz ein Aufstand. Und so weit
ich sehe, herrscht in Edinburgh eine bedrohliche Ruhe. Die
Arbeiterpartei tut so, als hätte sie nicht nur ein paar
Sitze, sondern gleich die ganze Wahl gewonnen.«
    »Hier ist es ganz ähnlich«, sagte Julie
O’Brien, die für uns in Südlondon die
Jugendarbeit organisierte, »doch ich glaube nicht, dass wir
uns bereits Sorgen machten müssen, die Trotzkisten
könnten die Macht übernehmen und wir müssten alle
verhungern. Betrachtet man die Zusammensetzung der neuen
Regierung, besteht kein Zweifel daran, dass wir eine Republik
bekommen werden, doch davon abgesehen ist ihr Programm ein
Mischmasch liberaler und planwirtschaftlicher Ideen. Auf der
einen Seite – Lockerung der Einwanderungsbestimmungen,
Abschaffung der Prohibition, Rückzug der Truppen aus
Griechenland und so weiter, auf der anderen Seite betreiben sie
diese Industriepolitik, wollen alles zu einem einzigen
großen System vernetzen und was nicht noch
alles.«
    »Komischerweise unter Einschluss eines
Weltraumprogramms«, sagte ich. »Irgendwelche
Anmerkungen dazu?«
    Es entspann sich eine Diskussion, die ich beendete, sobald
jemand Ayn Rand erwähnte. »Ich schlage Folgendes
vor«, sagte ich. »Wir unterstützen es nicht, wir
opponieren nicht dagegen, und falls es jemals funktioniert,
fordern wir seine Privatisierung.«
    Nichts ist besser geeignet, ein Komitee zu einigen, als ein
Moment des geteilten Zynismus.

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