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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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wäre, denn diesen
Begriff gab es damals noch nicht. Es war halt eben billiger.
    Mein Vater, der am Frühstückstisch saß,
blickte mich über den Manchester Guardian hinweg
an.
    »Die Russen haben eine Rakete ins All geschossen«,
sagte er. »Hoch in den Himmel, und jetzt umkreist sie die
Erde.« Er malte einen Kreis in die Luft.
    Ich fand das beunruhigend. In meiner Vorstellung stellten die
Russen eine große, vage Bedrohung dar. Sie hatten einem
Freund meines Vaters übel mitgespielt, einem alten Herrn,
dessen Foto gerahmt über dem Kamin hing: Karl Marx. Die
Russen hatten ihn entstellt. Was immer das war, es klang
Furcht erregend.
    Ich hob die Spielzeugrakete hoch, und als ich den Arm nicht
mehr weiter strecken konnte, drehte ich sie um und senkte sie
wieder ab. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie sehr sie einer Bombe
ähnelte. Ich hatte mal gesehen, wie man aus einem Garten am
Ende der Straße mit einem Kran eine Bombe hochgehievt
hatte, unter den Augen zweier Polizisten, eines Dutzends Soldaten
und einer faszinierten Menschenmenge. Nach dem Krieg zwischen den
Briten und den kapitalistischen Deutschen hatte sie zehn Jahre
lang in der Erde gelegen.
    »Heißt das, die können jetzt Bomben aus dem
Weltraum abwerfen?«
    Vielleicht weil er enttäuscht war über meine
Reaktion auf diese aufregende Neuigkeit, hatte sich mein Vater
abermals der Zeitung zugewendet, doch nun senkte er sie wieder,
und seine Miene hellte sich auf.
    »Ja!«, sagte er triumphierend. »Genau das
heißt es. Sehr klug, Jonathan. Und jetzt werden die
Amerikaner und alle anderen Raketen bauen und Bomben
reintun.«
    Meine Mutter blickte ihn finster an.
    »Aber das macht nichts«, setzte mein Vater eilig
hinzu, erhob sich, schüttelte die Serviette aus und faltete
die Zeitung zusammen. »Die Arbeiter werden nicht zulassen,
dass sie die Bomben auch abwerfen. Das werden wir verhindern,
nicht wahr?«
    »Ja«, sagte ich. »Das tun wir.«
    Ich wusste von meinen Spielkameraden in der Straße, dass
die Ansichten meiner Eltern in Streatham wenig Anklang fanden,
doch ich wusste auch, dass Menschen in aller Welt, sogar in
fernen Ländern wie Australien und Neuseeland, mit ihnen
übereinstimmten. Alles in allem waren es Aberhunderte.
    Diese große Macht würde die Bombe aufhalten. Ich
spielte weiter mit der Rakete, und mein Vater verließ
pfeifend das Haus, um mit dem Zug der Lohnsklaven zur Arbeit zu
fahren.
     
    »Reid hat mir gesagt, er habe eine Überraschung
für mich«, plapperte ich los, »aber ich muss
sagen, ich bin einfach baff. Wie, in aller Welt, bist du
ausgerechnet hier gelandet?«
    Myra lächelte. Sie sah gut aus, beinahe so, als sei sie
in vierzig Jahren gar nicht so sehr gealtert, doch das war
bloß Teil der Illusion, die mich davor bewahrte, mich
selbst alt zu fühlen. Man konnte die pergamentene
Beschaffenheit der Haut erkennen, die Falten in ihrer noch immer
eindrucksvollen Straffheit.
    »Ich kam in den Neunzigern hierher, um zu
forschen«, erklärte sie, »und dann wurde mir
klar, dass diese Leute Unterstützung brauchten und dass es
mir Spaß machte, ihnen zu helfen. Sie hatten damals noch
schwer unter den Folgen der Atomtests und der Abwanderung von
Wissenschaftlern zu leiden. Sie brauchten so viele Akademiker,
wie sie kriegen konnten, und ich konnte eine Menge
Unterstützung von den amerikanischen
Wohlfahrtsorganisationen an Land ziehen. Dann verliebte ich mich
in einen Armeeoffizier, wir heirateten, und zu unserem Glück
stand er mehrere Bürgerkriege, Militärputsche und
Umstürze hindurch auf der richtigen Seite. Und deshalb bin
ich hier, als Volkskommissarin für Sozialpolitik.« Sie
schwenkte die Hand. »Ich kann so viele Verträge
unterzeichnen, wie ich will, deshalb habe ich nicht das
Gefühl, nur mit inneren Angelegenheiten beschäftigt zu
sein.« Sie lachte. »Ihr wisst schon,
Weiberkram.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Dann ist aus Reid also
ein Kapitalist und aus dir eine Bürokratin geworden –
verdammt noch mal, ich bin hier anscheinend der einzige
Revolutionär!«
    »Ich bin keine Bürokratin«, sagte Myra
nicht ohne Arroganz. »Ich wurde bei einer regulären
Wahl gewählt. Wir haben hier nämlich eine
Demokratie.«
    Reid packte Dokumente aus und verteilte sie auf dem Tisch.
»Ja, Myra, du hast gewiss deinen hinreißenden jungen
Leutnant gewonnen. Dessen Faktion hat dem Begriff
›entarteter Arbeiterstaat‹ eine ganz neue Bedeutung
gegeben.«
    »Der Witz

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