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Die Marsfrau

Die Marsfrau

Titel: Die Marsfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kröger
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musste ich
gehen. Ich stürzte mich in die Arbeit. Oh, Sibirien ist weit und
ein herrliches Land! Bist du schon stundenlang mit
Schallgeschwindigkeit über Taiga, nichts als Taiga, geflogen?
– im Herbst, wenn sie gelb und orange leuchtet, wenn sich der
Rauch der Feuer von Nusssammlern und Jägern mit den
Birkenstämmen mischt?
Ich fing bei einem geologischen Suchtrupp an, wurde
Messgehilfe. Nun, ich meine, die Menschheit wäre heute nicht
so weit ohne Sibirien. Und was dort noch auf Erschließung
wartet… Ich habe ein Stückchen davon kennen gelernt, ein
Stückchen seines Reichtums und einige seiner Menschen.
Weißt du, was ein Sibiriak ist?“
Sylvester staunte. Nagy kam ins Schwärmen, wich darüber
von seinem ihm so nahe gehenden Thema ab, ein Zug, den er
ihm nicht zugetraut hätte.
„Ein Sibiriak ist zum Beispiel einer, der in Stiefeln voller
Morast, umschwärmt von bissigen Taigamücken, unrasiert und
erschöpft, mit bloßen Händen einen Stein ausbuddelt und dann
mit heiserer Kehle schreit: „Jüngelchen, ich habe ihn! Weißt
du, was das ist, du Grünschnabel!
B-u-n-t-k-u-pf-e-r-k-i-e-s!“ Und darauf führt der Mensch einen Tanz auf, in
den andere einfallen, mich hineinreißen, den Entdecker
umarmen, sich mit ihm im Knäuel im Dreck wälzen. Das habe
ich erlebt. Ein Sibiriak ist auch einer, der dich durch die
unwegsame Taiga bergauf und bergab schleppt, wenn du
schlappmachst. Oder einer, der wortlos den Theodolit nimmt,
zwei Kilometer zurückläuft, ihn wieder aufstellt und mit der
Messung neu beginnt, weil der Messgehilfe die Zentrierung
versaut hat. Kein Vorwurf und kein böses Wort. Er ist aber
auch einer, der in allen Tonarten fluchen kann, wenn der
Gleiter statt der bestellten Digikassetten Mikrotonbänder
abwirft.
Über ein Jahr war ich dabei – ich habe es dann einfach nicht
mehr ausgehalten. Das kann ein Mensch wie ich nicht
aushalten, leben unter Leuten, die ihr Herz auf der Zunge
tragen, die sich lieber einen Fuß abhacken, als anderen ein
Leid zufügen. Unter Leuten, die Tag und Nacht enthusiastisch
schuften, während andere längst Wohlstand genießen, auf ihre
Art ihre vier Stunden abarbeiten und dann fünf gerade sein
lassen. Sie kannten mich nicht, und trotzdem fühlte ich mich
täglich durch ihr Verhalten gedemütigt, erinnert an mein
Versagen. Ich verließ sie, ging in die Stadt
– nach
Nowosibirsk, habe dort an der Rekonstruktion des Obsker
Meeres mitgewirkt. Bis diese – wie hieß sie? –, diese Higgs
aus dem Institut dort auftauchte. Ich hatte kurz vorher erfahren,
dass Anne umgekommen war. Ich wollte, konnte niemanden
von denen sehen. Ich floh förmlich und landete nach mehreren
Stationen in der Farm. Ich hoffte, ich könnte dies alles
abstreifen, eines Tages überwinden. Da kamst du mit deinen
blöden Schweinen, und ausgerechnet für das Institut. Da
brach’s dann eben durch: die Dummheit meines Hasses gegen
die Alge, meine mühsam aufgepäppelte Abneigung gegen
derartige Eingriffe in die Natur, mit der ich all die Jahre mein
Handeln damals zu bemänteln suchte. Vielleicht war auch
Neid dabei, Missgunst, dass andere dort das taten, was allein
Anne und mir zugestanden hätte. Ich weiß es nicht. Aber,
Reim, es waren schlimme Tage für mich. Und langsam begann
ich zu begreifen, und ebenso langsam erkannte ich, was mir zu
tun blieb. Und da bin ich gekommen…“ Nagy hatte offenbar
genug gesagt. Er lehnte sich zurück. Dann sah er Sylvester an,
lächelte wie um Entschuldigung bittend und fügte hinzu: „Dass
man mich einstellt, noch dazu auf Fürsprache der Alten, habe
ich nicht im Traum gedacht. Ich habe mit Isolation oder
Arbeitsverbot gerechnet. Begreife bitte, dass mich das
schockierte, dass ich keine Bande fand, dass ich jemanden
brauchte, der mir zuhört, entschuldige!“
Sylvester erwiderte nichts. Ein bisschen schämte er sich, weil
er Nagys Not nicht erkannt, weil er einem Hilfesuchenden
nicht gleich Hilfe gewährt hatte. Und trotzdem! Schlüssig war
er sich nicht. Er fühlte sich außer Stande, sich in Nagys Lage
zu versetzen. Freilich, Nagys Frage, ob er schon richtig
verliebt gewesen sei, gab zu denken. Vielleicht war er es nicht,
möglicherweise konnten sich solche Emotionen steigern.
Sylvester dachte an Alina. Sie würde ihm gewiss sehr fehlen,
wenn er sie nicht mehr anrufen, nicht mehr mit ihr in den
Urlaub fahren könnte. Er würde viel vermissen, wendete sie
sich plötzlich von ihm. Er freute sich auf jedes Wiedersehen.
Wenn die Abstände

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