Die Marsfrau
wissen!“ Damit wandte sie sich ab, hob angedeutet
grüßend die Hand und stieg in das Fahrzeug.
Nagy beeilte sich, ihr zu folgen. Er hörte noch, wie der
zweite Maschinist brummelte: „Mein lieber Mann…“
In der Tat, was Marie „drauf hatte“, imponierte Allan. Sie
hatte sich von einer Seite gezeigt, die man im Institut nicht
kannte. Wollte sie Eindruck machen? Wohl nicht. Wie sie sich
verhalten hatte, war der Sache angemessen.
Und Nagy fühlte sich ein wenig beschämt. Freilich, an seiner
Arbeit im Institut dürfte keiner etwas auszusetzen haben. Aber
die kommunalen Aufgaben hatte er bisher nicht so ernst
genommen, seine Territorialtage wie ein notwendiges Übel
aufgefasst, sich dabei als Mitläufer und Jasager erwiesen.
Machte es jeder wie Marie, wären die Schlampereien des
Alltags vergessen. Und er war überzeugt, die Maschine würde
morgen laufen…
Sie fuhren einige Kilometer zurück. Dann hielt Marie.
„Laufen wir ein Stück?“, fragte sie.
Sie schritten auf eine kleine Anhöhe zu, die im durchlichteten
Dunst aussah, als umgäbe sie ein Strahlenkranz.
Sie schwiegen, schlenderten nebeneinander und genossen den
frischen Frühlingsvormittag.
Marie ging mit fast geschlossenen Augen, den Kopf im
Nacken und das Gesicht voll der Sonne zugewandt.
Nagy nahm seine Umgebung aktiv wahr. Er nahm die
Harmonie der bunt hingetupften Blüten zum dunkelgrünen
Untergrund ebenso bewusst auf wie die glitzernden
Reifnädelchen und die trockene Frische der Luft. Obwohl sie
langsam gingen, streckte er die Beine bei jedem Schritt, bis er
die Anspannung der Muskeln spürte.
Nagy dachte, was es sein mochte, das Menschen wie diesen
Maschinenführer so handeln ließ. Weder die Schule noch die
Gesellschaft hatten ihn dazu erzogen. Vielleicht gab es in der
Familie Schwierigkeiten…
„Und wie war es bei dir, Allan, war dein häusliches Milieu
gut? Na, mit Vater hatte ich nie einen innigen Kontakt. Er
nörgelte, erzog permanent und ließ das einen auch deutlich
merken – hatte stets den Zeigefinger erhoben und wusste alles
immer besser als die Schule. Dabei war er jähzornig und
aufbrausend. Sicher ließ er sich von besten Motiven leiten –
schließlich hatte er als Chefarzt ein entsprechendes Niveau und
konnte eine Menge Erfahrungen vermitteln, aber wie er das
tat!“ Allan erinnerte sich, dass er damals, als er mit zwölf
Jahren ins Internat ging, diesen Schritt nicht bereute.
„Ja – und Mutter?“ An seine Mutter konnte sich Allan nur
undeutlich erinnern. Es gelang ihm kaum, sich ihr Gesicht,
ihren Habitus vorzustellen. Sie lebten nebeneinander, die
Eltern, weil es bequem war. Und weil sich die Frau ein Kind
wünschte – so hatte es Allan aus Erzählungen dunkel in
Erinnerung –, kam er zur Welt. Aber der Vater hatte darauf
bestanden, dass die Geburt herkömmlich geschah. Die
Schwangerschaft und der Geburtsakt selbst hatten wohl bei ihr
bleibende negative Eindrücke hervorgerufen. Immer wieder
sprach sie davon – und oft hatte es Allan mit anhören müssen –
als von einer animalischen Tortur, auf jeden Fall aber einem
erschütternden Ereignis. Und der unverständliche Zwang, den
der Mann auf die Frau ausgeübt hatte, dieser Rückfall in das
zwanzigste Jahrhundert, erzeugte bei ihr Gleichgültigkeit
gegenüber dem Vater und sicher auch dem Kind. Andererseits
war sie persönlich zu träge, um diese Verhältnisse zu ändern.
Was Wunder, dass die Trennung von keiner Seite als
schmerzlich empfunden wurde, man ging zur Tagesordnung
über.
Nur dass die anderen Internatsschüler besucht wurden oder
zu Besuch fuhren an den freien Tagen, in den Ferien oder dem
Urlaub der Eltern und Allan stets an den Freizeitaktionen der
Schule teilnehmen musste, war nicht die allgemeine Regel, und
es schmerzte. Aber die Schule hatte zur Achtung des
Mitmenschen, seiner Würde und Anerkennung seiner Leistung
erzogen, hatte Vorbilder geschaffen, ein solides Wissen
vermittelt. Und schön war es dort auch, viel schöner als
während der Jahre zu Hause. ,Oder war ich schon Eigenbrötler,
als ich zur Schule kam? Freilich, ich galt als ein wenig
ungesellig, als einer, der vieles anders machte als andere, der
Kritik schlecht vertrug und der auch hier und dort mal ein
wenig ausscherte. Das Abschlusszeugnis bescheinigte mir,
dass das Ziel der Persönlichkeitsbildung erreicht sei und dass
Allan Nagys Charakter eine starke Individualkomponente
enthalte, die ihm die Prägung eines empfindsamen,
tieffühlenden Menschen verleihe.’ So
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