Die Masken des Morpheus
versuchten ihn aufzuhalten, weil Marat sie anfeuerte. »Ein Volksfeind! Haltet ihn auf!«, erscholl es aus Dutzenden von Kehlen.
Jemand packte ihn am Kragen. Arian bog die Arme zurück und schlüpfte so aus seinem Frack. Er war schneller vom Jäger zum Gejagten geworden, als er Swap sagen konnte. Wenn er nicht gelyncht werden wollte, musste er sich schleunigst etwas einfallen lassen. Ihm schwirrte der Kopf. Illusionen von Wasserfällen oder Steinbarrieren würden ihm in der dicht gedrängten Menge nichts nützen …
Im nächsten Moment stand er in Flammen. Es war der alte Trick, mit dem er schon Slit beeindruckt hatte.
Die Menschen wichen erschrocken vor ihm zurück. Dadurch hatte er endlich freie Bahn. Als lebende Fackel lief er auf die Avenue des Champs-Élysées zu – die »Allee der Elysischen Gefilde«. Morpheus und Marat waren ihm auf den Fersen. Letzterer stachelte mit seinem Gekeife unerbittlich die Leute an, sich dem Feuermenschen in den Weg zu stellen, seine Flammen seien nur eine Sinnestäuschung.
Arian hetzte an den Verurteilten vorbei, die mit geschorenen Köpfen, den Rücken zum Blutgerüst, auf ihre Hinrichtung warteten. »Das Fanal der Freiheit läuft vor dem Volksfreund davon«, rief einer und kicherte irre.
Marat musste den Spötter wohl gehört haben, denn er brüllte wie von Sinnen: »Ich bin der Zorn. Der gerechte Zorn des Volkes. Wenn ihr den rotäugigen Teufel nicht aufhaltet, werdet ihr alle geköpft.«
Vor Arian tauchte endlich die Allee auf. Zu beiden Seiten reihten sich die Buden, an denen das müde Publikum sich erfrischte, seinen Hunger stillte oder Andenken kaufte. Bis dorthin musste er es schaffen. Er würde sich zwischen den Ständen wieder in einen normalen Menschen verwandeln und in der Masse …
Aus den Augenwinkeln sah er etwas auf seine Beine zukommen. Ein Füsilier hatte seine Flinte samt aufgepflanztem Bajonett nach ihm geworfen. Arian sprang, um der Messerklinge auszuweichen. Das gelang ihm auch, doch dann blieb sein Fuß im Trageriemen der Waffe hängen. Er stolperte und fiel der Länge nach aufs Straßenpflaster.
Sofort wurde er von Leuten umringt. Er hatte vor Schreck seine Tarnung fallen gelassen, war nur noch ein normaler, schlecht gekleideter Volksfeind im Dreck. Er bleckte die Zähne wie ein wildes Tier. Zornig knurrend stemmte er sich vom Boden hoch, um seine Flucht als lebende Fackel fortzusetzen.
Plötzlich spürte er einen Schlag am Hinterkopf. Ihm wurde schwarz vor Augen und er verlor die Besinnung.
Nur langsam tauchte Arians Geist aus den Tiefen der Ohnmacht auf. Seine Sinne fingen erste Signale auf und meldeten sie ans Bewusstsein : den modrigen Geruch schimmelnden Strohs vermischt mit dem Gestank von Urin und Exkrementen; die Kälte des Steinbodens, auf dem er bäuchlings lag; das Wimmern, Schreien und Jammern leidender Menschen; ein merkwürdiges Kitzeln am Fuß. Und den Schmerz. Arian hatte das Gefühl, sein Kopf besäße die Größe einer Montgolfière.
Ächzend drehte er sich auf den Rücken und setzte sich auf. Eine dicke, schwarze Ratte ergriff die Flucht. Sie huschte in ein nahes Mauerloch. Hatte das Biest gerade an seinen Stiefeln genagt? Er sah sich um.
Viel zu entdecken gab es da nicht. Man hatte ihn in ein kleines, kahles, feuchtes, fensterloses Zellengewölbe gesperrt. Auf der morschen Holzpritsche lag nicht einmal ein Strohsack. Und ohne die Öllampen auf dem trostlosen Gang jenseits des Gitters würde er im Dunkeln sitzen. Plötzlich vernahm er ein Kichern.
Arian stemmte sich auf die Beine hoch und wankte zur Tür. Auf der anderen Seite des Korridors sah er eine Zelle wie seine eigene und darin einen Schemen. Die hörbare Belustigung des Gefangenen machte ihn wütend. »Was gibt’s da zu lachen?«
Das Kichern verstummte. Die Gestalt erhob sich und trat ans Gitter. Es war ein kleiner Mann, der wohl bereits auf die sechzig zuging. Er hatte eine Stirn, die bis zum Hinterkopf reichte. Seitlich standen graue Haarbüschel wie erstarrte Flammen von seinem Kopf ab. Sein Gehrock mochte einmal kostspielig gewesen sein, war nun jedoch ebenso schmutzig und unansehnlich wie seine ganze Erscheinung. Mit einer vagen Geste des Handgelenks antwortete er: »Sie sehen so überrascht aus, Monsieur. Das erlebt man selten in diesen ehrwürdigen Mauern. Hier, wo die erste Uhr von Paris tickte, hatte schon mancher armen Seele die letzte Stunde geschlagen.« Er lachte leise in sich hinein.
»Was ist das für ein Gefängnis?«
»Das wissen Sie nicht? Sie
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