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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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wurde breiter. Wie gut, dass er mit Komplikationen gerechnet hatte. Ohne es zu wissen, waren Turtleneck und seine Handlanger für ihn in die Bresche gesprungen und hatten zu Ende gebracht, was ihm selbst nicht gelungen war. Sofern nicht …
    Eine Lady im weit schwingenden Kleid aus kupferfarbener Seide wich ihm erschrocken aus, als sähe sie den Leibhaftigen. Als sie sich beim Wechsel auf die andere Brückenseite nach ihm umdrehte, pflügte sie mit ihrem wallenden Rocksaum geradewegs durch einen Haufen Pferdeäpfel. Erst ihre Reaktion machte Mister M. bewusst, wie wenig er seine neuen Gesichtszüge unter Kontrolle hatte. Er tauschte die boshafte Grimasse gegen ein vergnügtes Lächeln aus, um nicht aus der Rolle zu fallen. In den letzten Tagen hatte er sie gründlich studiert.
    Hier, nur ein paar Schritte vom Amphitheater entfernt, gehörte der junge Gaukler zum alltäglichen Straßenbild. Mike Astley war in der Stadt als stiller und freundlicher Zeitgenosse bekannt. Nur vor Publikum – wenn er in der Manege stand und seine Puppe plappern ließ – verwandelte er sich in eine ungestüme Kodderschnauze.
    Als Mister M. das Ende der Brücke erreichte, schob sich von rechts Astleys Reitschule ins Blickfeld, die nachmittags und abends mit Pferden und anderen Kuriositäten leichte Unterhaltung bot. Der Komplex mit der überdachten Arena lag an der Ecke Westminster Bridge Road und Stangate Street. Sprechtheater mit königlichem Patent wie Covent Garden und Drury Lane waren dagegen wahre Paläste. Das Etablissement des Philip Astley nahm sich im Vergleich dazu eher bescheiden aus: ein hölzernes Haus für die Haupttribüne, das zwei Baracken flankierten, denen sich für die billigen Sitzplätze Galerien anschlossen, die sich zur Straße hin als langweiliger Bretterzaun präsentierten. Auf dem Dach des Hauptgebäudes thronte ein Pferdestandbild mit einem stehenden Kunstreiter auf dem Rücken. Mister M. hatte in den angrenzenden Pferdeställen eine Verabredung.
    Das geheime Treffen war für ihn eine lästige Pflichtübung, die er gleichwohl ernst nahm. Überall auf der Welt hatte er seinen Helfern gegenüber immer Wort gehalten – solange es seinem persönlichen Vorteil diente. So war ihm in Frankreich eine große Gefolgschaft zugewachsen, die mit jedem Tag der Revolution mächtiger wurde. In England hatte er seine Getreuen ebenfalls stets an sich gebunden, allen voran seine eigene Familie. Oder wenigstens einen Teil davon.
    Auch Philip Astley war ihm über die Jahre hinweg ein recht nützlicher Zuträger gewesen.

    Der Geruch von Heu, Leder und Pferdedung stieg ihm in die Nase. Das Zwielicht im Stall kam Mister M. gelegen. Er sah zwar aus wie Tobes’ Sohn, doch seine Körpersprache und sonstigen Eigenheiten hatte er ihm nicht stehlen können. Den auf dem Plakat groß angekündigten »Neger«, dem er gleich hinter der Eingangstreppe des Hauptgebäudes begegnet war, hatte er jedenfalls ebenso überzeugt wie die Reitschüler und -lehrer im Ring.
    »Ist da jemand?«, rief er ins Halbdunkel hinein und lauschte. Sein neues Gehör war erheblich schärfer als das vorherige. Am Ende des Mittelgangs schnaubte eines der drei Pferde, die zurzeit keine Möchtegernreiter ins Sägemehl werfen durften. Außerdem vernahm er nur wenige Schritte entfernt ein leises Rascheln. War das Astley? Warum antwortete er nicht?
    Langsam ging Mister M. weiter. Er wich einigen Holzfässern aus, die er so argwöhnisch beäugte, als sei Schwarzpulver darin, und nicht, wie er eher vermutete, Hafer für die Tiere. Sein notorisches Misstrauen gegen alles und jeden hatte ihm schon oft das Leben gerettet. Der Raum war schwer zu überblicken. Da gab es hölzerne Stützbalken, an denen Hufeisen und Zaumzeug hingen. Pfosten und schlichte Querstangen trennten zu beiden Seiten die Stellplätze voneinander ab. An den Außenwänden verliefen lange Futtertröge. Im Mittelgang stand eine vierrädrige Kutsche, eine offene Kalesche. Das aufgestellte Lederverdeck versperrte ihm die Sicht. Er schickte sich gerade an sie zu umrunden, als sich zur Linken plötzlich eine knarrende Stimme meldete.
    »Da bist du ja.«
    Erschrocken fuhr er herum.
    Auf einem Hocker neben ihm thronte ein kuppelförmiger, runder Vogelkäfig. Er war hinter den Pferdedecken auf den benachbarten Holmen nicht zu sehen gewesen. Auf einer Stange in dem Bauer saß ein grün-gelb-roter Papagei und sah den Seelendieb feindselig an. Mister M. hatte ihn ins Amphitheater liefern lassen, als Gegenleistung für

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