Die Masken des Morpheus
hörte er Mira sagen.
Ohne sie anzusehen, ließ er weiter seinen Willen entströmen. Bald meinte er den Wind zu spüren, wie einen hauchfeinen Vorhang aus Hunderten von Seidenfäden. Unwillkürlich bewegte er die Hände, als könne er das zarte Himmelsgarn tatsächlich greifen und in die entgegengesetzte Richtung ziehen.
»Der Ballon ist stehen geblieben. Nicht nachlassen!«, rief Mira.
Davon ermutigt zerrte er stärker an den himmlischen Fäden. Und es funktionierte. Die Montgolfière nahm wieder Fahrt auf. Nach Westen! Oder bildete er sich das alles nur ein? Hatten sie nur die erhoffte Luftströmung erwischt?
Nach einer Weile merkte er, wie sich Mira bei ihm einhakte und ihren Kopf an seine Schulter lehnte. »Ich glaube, du kannst die Augen jetzt aufmachen, Arian. Sieh dir nur den Himmel an! Es scheint, als wären die Sterne greifbar nahe.«
Der Mond hatte einen Streifen aus Licht über dem Meer ausgestreut. Es schien als folge der Ballon dieser leuchtenden Straße nach Westen. Arian und Mira hatten sich in ihre Mäntel eingewickelt, um der Kälte zu trotzen. Sie beobachteten die Fahrt nicht ohne Sorge. Ihre Montgolfière verlor rasch an Höhe.
»Sind noch Sandsäcke da?«, fragte er müde. Unablässig in die Kräfte der Natur einzugreifen, war ungemein anstrengend.
»Nein. Wir haben schon allen Ballast abgeworfen.«
»Ich kann nicht einmal die Kreidefelsen sehen.«
»Der Kurs stimmt. Deine Luftwelle trägt uns geradewegs nach England.«
»Falls wir so weit kommen. Der Rauch in der Luftkugel kühlt sich schnell ab.«
Immer rascher sank der Freiballon. Der zweite Versuch, den Ärmelkanal von Calais aus zu überqueren, drohte so zu enden wie der erste, nämlich tödlich.
»Du musst etwas unternehmen!«, sagte Mira. Ihre Stimme klang angespannt.
»Ich bin vollauf damit beschäftigt, die Luftströmungen zu bändigen.«
»Zum Ertrinken braucht man keinen günstigen Wind.«
»Was?«
»Heiße Luft ist jetzt wichtiger, Arian.«
Es lag ihm auf der Zunge, Zweifel anzumelden. Auf die Schnelle eine Guillotine in Brand zu stecken oder eine Bleikugel zum Schmelzen zu bringen, war nicht mit dem hier zu vergleichen. Er musste einen Papiersack von vierzig Fuß Durchmesser anheizen. Ob er nach den bisherigen Strapazen noch die Kraft dazu hatte? Ein Blick über das Geländer nach unten ließ ihn erschauern. Nicht mehr die Sterne waren nun greifbar nahe, sondern das Meer. Ein Wellenkamm spritzte gegen die Galerie. Gischt stob den beiden ins Gesicht.
»Schnell!«, rief Mira.
Arian lenkte seinen Willen in den »Hals« des Aerostaten. Er stellte sich vor, wie sich die Rußkörnchen aneinander rieben und dabei immer wärmer wurden.
Erneut leckte eine Woge an der Montgolfière. Der Ballon geriet ins Taumeln.
»Heißer!«, schrie das Mädchen.
Er biss die Zähne zusammen und sandte seine ganze Kraft in die Luftkugel.
Mira kreischte.
Arian riss die Augen auf. »Was … ?«
»Eine Monsterwelle«, keuchte sie. »Hat uns knapp verfehlt. Ich glaube, wir steigen wieder.«
Er atmete erleichtert auf. »Könntest du mir einen Gefallen tun, Schatz?«
»Falls du keine Wunder von mir verlangst.«
»Wenn du mich das nächste Mal erschreckst, möchte ich von dir hören, dass du Land gesehen hast.«
»Das müssen die Weißen Klippen von Dover sein.«
Arian öffnete die Augen. Er saß in der Galerie, mit dem Rücken zum warmen Ballon, und fühlte sich ausgebrannt. Sein Magen rumorte und ihm war schlecht. Wahrscheinlich die Anstrengung. Oder war er seekrank … nein, luft krank? Ächzend erhob er sich.
Als er den fahlen Strich gewahrte, überwältigte ihn die Erleichterung. »Ich habe schon fast nicht mehr daran geglaubt.«
Sie griff nach seiner Hand, verschränkte ihre Finger mit den seinen, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Du bist mein Held.«
Er lächelte müde. »Noch sind wir nicht gelandet.«
Sie lachte. »Hast du Angst, wir kommen nicht runter?«
Wenig später sahen sie unter sich vereinzelte Lichter. Dover! Hatte der Zufall sie sicher ans Ziel gebracht oder waren es tatsächlich Ikelas Kräfte gewesen?
Wie auch immer, der glückliche Verlauf ihrer epochalen Luftreise flößte ihm neuen Mut ein. Der Mond war noch nicht untergegangen. So fiel es leicht, nach einem passenden Landeplatz oberhalb der Kreidefelsen zu suchen. Eine baumlose Weidefläche östlich der Hafenstadt erschien ihm dafür wie geschaffen. Er lenkte seinen Willen in den Luftstrom, der den Ballon trug. Trotz der Erschöpfung
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