Die Masken des Morpheus
rechnete.
Benommen stützte er sich mit der Hand auf, um wieder auf die Beine zu kommen. Er vermochte nicht mehr zu kämpfen und wollte es auch nicht. Der unbändige Zorn war verpufft. Nur um Miras willen rappelte er sich wankend hoch, nur für die von einer Kugel niedergestreckte Elfe. Vielleicht war noch Leben in ihr und er konnte sie zu sich in Turtlenecks Körper holen.
Seine Füße waren schwer wie Ambosse und gruben tiefe Furchen in den Sand. Nach ein paar taumelnden Schritten drehte er sich zu dem Lärm um. Verschwommen sah er die fechtenden Gestalten am Strand. Seine Augen verengten sich, als er einen einzelnen Kämpfer ausmachte – nur einen einzigen! –, der sein Schwert mit unglaublicher Schnelligkeit führte. Um ihn herum lagen mindestens ein halbes Dutzend Schwarzröcke und gerade fiel ein weiterer. Wer war dieser Furcht einflößende Krieger?
Während Arian auf den im nassen Sand liegenden Körper zuwankte, klärte sich sein Blick auf. Das Mädchen lag immer noch auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, regelrecht begraben unter der Segeltuchtasche. Ab und zu umspülten sie die Ausläufer einer größeren Welle.
»Es tut mir leid, Mira!«, flüsterte er mit erstickter Stimme. Tränen rannen ihm über die Wange. Warum nur hatte er sie nicht beschützen können?
Plötzlich bewegte sich Miras Hand.
Er riss die Augen auf. War es nur ein grausames Spiel der Wellen?
Die Finger des Mädchens zuckten.
Sie lebt! Sein Herz machte einen Freudensprung. Endlich hatte er sie erreicht. Er stach seinen Degen in den Boden und ließ sich neben ihr auf die Knie sinken. Im rötlichen Licht des Feuerkristalls sah er ein schwarzes Loch in ihrer Tasche. War die Kugel etwa darin stecken geblieben? Er schob das Gepäckstück von ihr herunter.
»Mira, hörst du mich?« Weiter unten am Strand wurde immer noch gekämpft.
Sie stöhnte.
Aufgeregt betastete er ihren Rücken. Es war keine Wunde zu entdecken. Behutsam drehte er sie herum und kniff das Kristallauge zu. In diesem glücklichen Moment wollte er sie nicht als Falkenfrau sehen. Über ihre rechte Schläfe zog sich eine blutige Schramme. Mira war wohl beim Sturz mit dem Kopf aufgeschlagen und hatte die Besinnung verloren. Ansonsten schien sie unverletzt zu sein.
»Arian?«, murmelte sie benommen.
»Ja. Ich bin so froh, dass du lebst. Wie geht es dir?«
Sie verzog das Gesicht. »Ich fühle mich, als sei eine Kutsche über mich hinweggerollt.«
»Versuch, auf die Beine zu kommen, und lauf zur Stadt. Aber diesmal ohne Gepäck.«
»Und du?«
»Ich muss jemandem helfen.«
»Du hilfst niemandem mehr«, sagte unvermittelt eine hasserfüllte Stimme. Arian fuhr herum. Vor ihnen stand der Anführer, das Rapier stoßbereit auf ihn gerichtet. Trotz des ausgekugelten Arms grinste er hämisch.
»Laissez l’ épée!« , tönte es überraschend aus dem Hintergrund – »Lass die Waffe fallen!«.
Der Schwarzrock lachte rau. »Mich legst du mit deinen Gaukeleien nicht herein. Fahr zur Hölle!« Sein Körper straffte sich für den Todesstoß …
Plötzlich riss er die Augen auf und sah überrascht nach unten. Aus seiner Brust ragte eine schlanke Klinge und zog sich gleich wieder zurück. Röchelnd brach er zusammen.
Hinter dem Gefallenen kam ein junger Mann zum Vorschein, in der Linken hielt er einen blutigen Degen. Er sah auf Arian und Mira herab und lächelte. Nach einer vollendeten Verbeugung sagte er in jenem harten Französisch, das man von Deutschen kennt: »Ihr habt euch eine ungünstige Zeit für euren Strandspaziergang ausgesucht, Mademoiselle und Monsieur. Gestatten Sie mir, mich vorzustellen? Mein Name ist Tarin. Was von den Strolchen noch übrig ist, konnte ich in die Flucht schlagen. Trotzdem empfehle ich, die Beine in die Hand zu nehmen und zu laufen. Mit diesen Männern ist nicht zu spaßen. Sie sind wie Wölfe. Und jetzt haben sie Blut gerochen.«
Können Arian und Mira ihrem Retter trauen?
Er hat Geheimnisse, die er nicht lüften will,
warnt sie vor einer mörderischen Meute,
die sich die Schwarzen Wölfe nennt,
und er unterbreitet ihnen einen wahnwitzigen Plan.
Bei Calais, 9. Juni 1793
Als Arian die Sonne am Horizont aufgehen sah, fühlte er sich wie neu geboren. Nach Miras vermeintlichem Tod hatte er mit dem eigenen Leben schon abgeschlossen. Er war am Strand nicht mehr er selbst gewesen und hätte im Blutrausch womöglich jeden getötet, der ihm vor die Klinge gelaufen wäre. Nur der Schlag auf den Kopf hatte ihn davor
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