Die Masken des Morpheus
Arian.
»Mortimers Scharfrichter«, fügte Tarin hinzu und zückte seine Pistolen.
Der Greifvogel schien sich aufzublähen. Er verwandelte sich in einen Mann, groß, hager, vollbärtig, dünnlippig, mit einer langen Nase, die Arian an einen Krummdolch erinnerte. Seinen Leib umschlackerte ein schwarzer Talar und auf dem Kopf trug er ein altmodisches Barett. »Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr Eure Meuchelpuffer nicht abfeuern würdet«, sagte er mit hoher Stimme.
»Was sollte mich daran hindern?«, entgegnete Tarin trotzig.
»Der Umstand, dass drei Dutzend Flinten auf Euch zielen.« Der Hagere deutete in den Wald.
Arian erschauerte, als am Rand der Senke eine Kette von Reitern auftauchte. Ihre langen Vorderlader zielten auf ihn und seine Gefährten.
»Dann waren die Gewehrsalven und das Geschrei also nur dazu da, uns hier in die Falle zu locken«, bemerkte Tarin nüchtern.
Der Hagere lächelte voller Genugtuung, doch ohne Häme. »Hätten wir die Absicht, Euch umzubringen, Monsieur, so wärt Ihr längst tot. Euch geschieht nichts, wenn Ihr Eure Waffen niederlegt und Euch von uns festnehmen lasst. Dafür verbürge ich mich mit meinem Namen.«
»So? Und wie lautet der? Etwa Morpheus?«
Wieder das Lächeln, diesmal wissend mit einem Hauch von Überheblichkeit. »Der Metasomenfürst war verhindert. Deshalb hat er mich geschickt. Ich bin Michel de Nostredame.«
»Nostradamus? Der Arzt und Sterndeuter? «, entfuhr es Mira.
»Ich bevorzuge es, als Sternen freund gesehen zu werden.«
»Sie sollten seit über zweihundert Jahren tot sein, Monsieur.«
»Nur meine sterbliche Hülle, Mademoiselle du Lys. Es fanden sich andere Körper, die mich am Leben erhielten, um meiner Destination zu folgen.«
»Sie meinen das Prophezeien?«
»Nein.« Er lachte. »Die Propheties sind doch nur gedruckter Hokuspokus, Nahrung für abergläubische Kleingeister, die mir mein Auskommen sicherten. Meine eigentliche Berufung ist es, zwischen Tauschern zu vermitteln, die einander nicht mehr trauen …«
»Warten Sie!«, unterbrach ihn Tarin. »Von so einem Mann hat mir meine Mutter erzählt. Aber sie benutzte einen anderen Namen.«
»Michel Gassonet?«
»Richtig!«
»Ich gebrauche auf meinen Missionen häufig unseren ursprünglichen Familiennamen. Mein Großvater Guy war Jude, bevor er zum katholischen Glauben konvertierte und sich nach seiner Taufkirche de Nostredame nannte.«
»Sie sind also ein Vermittler?« Tarins Argwohn war nicht zu überhören.
»So ist es. Morpheus bat mich um Hilfe, weil er fürchtete, ihr könntet mit seinen Gesandten ähnlich umspringen wie mit den Männern, die Euch in Calais erwarteten.«
»Die wollten uns töten«, knurrte Arian. Nur mit Mühe konnte er seinen Zorn beherrschen. Er war entschlossen alles zu tun, um Miras Leben zu schützen. Der Feuerkristall zeigte ihm den angeblichen Sternenfreund mit einem Hyänenkopf, was ihm wenig vertrauenswürdig erschien.
Der Hagere kräuselte die Lippen. »Zugegeben. Seitdem hat sich einiges geändert.« Sein Blick wechselte zu Tarin.
Der sah seine Gefährten an und fragte leise: »Sollen wir kämpfen?«
»Das wäre unser sicherer Tod«, sagte Mira.
Arian schüttelte den Kopf. »Nein! Sterben müssen wir alle. Aber nicht heute. Und nicht hier.«
In einer rumpelnden Kutsche fahren die Gefährten
einem ungewissen Schicksal entgegen.
Auf sie warten eine unsichtbare Insel
und ein paar unerfreuliche Überraschungen.
Wald von Compiègne, 14. Juni 1793
Arian kam sich vor wie ein Delinquent, der nicht wusste, ob er zum Schafott gefahren, an den Pranger gestellt oder nur verhört werden sollte. Drei Tage lang quälte ihn nun bereits die zermürbende Ungewissheit. War es ein Fehler gewesen, sich zu ergeben, anstatt gegen die Schwarzen Wölfe zu kämpfen?
Nein , dachte er. Dann wäre er womöglich endgültig dem Bösen verfallen, das von den Körpern der Ganoven auf ihn abgefärbt hatte. So konnte er sich als Sieger fühlen, selbst wenn die äußeren Umstände nicht danach aussahen. Außerdem war Miras Einschätzung der Lage schon ganz richtig. Jeder Widerstand hätte ihren sicheren Tod bedeutet. Jetzt blieb ihnen wenigstens eine Galgenfrist. Und die Hoffnung.
Er atmete tief und seufzte. Die Luft in der dämmrigen Kutsche war stickig und Miras Körpergeruch mittlerweile nun doch nicht mehr der reinste Blumenduft. Trotzdem betörte ihn diese Mischung aus Kölnisch Wasser, ungewaschener Kleidung und noch etwas anderem, das er nicht
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