Die Mauern des Universums - Melko, P: Mauern des Universums - The Walls of the Universe
konnte sich vor lauter Büchern kaum bewegen. Wie in der Stadtbücherei von Findlay lag ein deutlicher Staubgeruch in der Luft.
»Studentenausweis?«
Als John sich umdrehte, entdeckte er einen Studenten, der hinter einem hohen Stapel dicker Schwarten am Empfang saß. Wie es sich für eine Bibliotheksaufsicht gehörte, trug er eine Brille.
Für einen Moment war John ratlos, dann klopfte er sich suchend auf die Taschen. »Muss ich wohl im Wohnheim vergessen haben.«
Der Brillenträger verzog das Gesicht. »Na gut. Aber dass mir das nicht nochmal vorkommt!«
»Natürlich nicht.«
Immerhin gab es hier einen elektronischen Katalog. John tippte den Begriff »Paralleluniversum« ein. Viel kam nicht dabei heraus – bei genauerer Betrachtung gab die Physikbibliothek sogar überhaupt nichts dazu her. Aber war das so verwunderlich? Wahrscheinlich hatte er nach dem falschen Begriff gesucht. Von »Paralleluniversen« war im Fernsehen
oder im Kino die Rede; Physiker hatten bestimmt ihre eigene Terminologie dafür.
Nur kam John einfach nicht darauf. Er war sich sicher, dass es da noch eine andere, offizielle Bezeichnung gab, aber er wusste nicht einmal, wie und wo er danach suchen sollte. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als mit seinen naiven Fragen direkt zu einem Professor zu gehen.
Schließlich verließ er die Bibliothek und streifte durch den zweiten Stock der Physik-Abteilung in der McCormick Hall, die Augen auf die Namensschilder neben den Türen gerichtet. Auf den Schwarzen Brettern an den Wänden der Flure hingen unzählige Mitteilungen: Assistentenstellen wurden ausgeschrieben, freie WG-Plätze angeboten und Arbeitsgruppen angepriesen. Viele Büros standen leer. Ganz am Ende des letzten Flurs stieß John auf ein schmales Büro, in dem Licht brannte. Es gehörte einem Dr. Frank Wilson, Lehrbeauftragter für Physik.
John war klar, dass Lehrbeauftragte in der universitären Hackordnung nicht gerade weit oben standen, weshalb man Wilson wahrscheinlich auch in dieses abgelegene Einzelbüro gesteckt hatte. Aber möglicherweise war das gar nicht so schlecht: Vielleicht würde ein jüngerer Professor mehr Geduld für ihn aufbringen als ein alteingesessener.
Er klopfte an die Tür.
»Kommen Sie herein«, drang es dumpf auf den Gang hinaus.
Als John die Tür aufmachte, fand er sich in einem winzigen, vollgestopften Büro wieder. Doch während sich in den Regalen und an den Wänden ringsum Computerausdrucke und dicke Schinken mit kryptischen Titeln stapelten, war der kleine Schreibtisch im Zentrum des Raums fast leer. Der Mann, der dahinter saß, blickte von einer Fachzeitschrift auf, als John das Zimmer betrat.
»Willkommen! Sie sind der Erste, der heute zur Sprechstunde erscheint.« Professor Wilson, der erst Ende zwanzig war, trug eine schwarze, dickrandige Brille, hatte einen rotblonden Bart und schien schon länger nicht mehr beim Friseur gewesen zu sein. Unter seinem grauen Sakko blitzte ein blaues Hemd auf.
»Tag«, sagte John. »Äh … ich hab da ein paar Fragen, aber ich weiß nicht so genau, wie ich anfangen soll.«
»Geht es um die Hausaufgaben?«
»Nein. Um etwas ganz anderes.« Plötzlich war er sich nicht mehr so sicher, ob das hier eine gute Idee gewesen war. »Um Paralleluniversen.«
Wilson nickte wissend. »Aaahh ja.« Er nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher. »Sind Sie eigentlich in einem meiner Kurse? Physik eins, vielleicht?«
»Nein.«
»Und warum interessieren Sie sich dann gerade für Paralleluniversen? Sind Sie vielleicht in einem Kurs für kreatives Schreiben?«
»Nein, ich …«
»Wissen Sie, die Frage, die Sie da eben gestellt haben – Sie denken vielleicht, das ist keine große Sache, aber … Hatten Sie eigentlich schon Infinitesimalrechnung?«
»Erst ein halbes Semester.«
»Dann haben Sie sowieso keine Chance, die Mathematik dahinter zu kapieren. Hier geht es um Leute wie Hawking, Wheeler und Everett.« Er zählte die drei Namen an den Fingern auf. »Verstehen Sie? Das ist Quantenkosmologie. Nur was für Fortgeschrittene!«
John sprach schnell, bevor Wilson ihm wieder ins Wort fallen konnte. »Aber ich interessiere mich mehr für die praktische Seite. Nicht für die Theorie.«
»Die praktische Seite? Von Paralleluniversen? Schwachsinn! Alle gängigen Theorien der Quantenkosmologie besagen,
dass es da draußen zwar multiple Universen geben könnte, aber dem Schwachen Anthropischen Prinzip zufolge ist unseres das wahrscheinlichste. Das heißt so viel wie: Weil wir
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