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Die Maya-Midgard-Mission

Die Maya-Midgard-Mission

Titel: Die Maya-Midgard-Mission Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Sieberichs
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unendlich viel Neues zu erfahren, und wenig Zeit, Altes zu pflegen. Wie seine Schüler so hatte auch Kabyum Kin eifrig gelernt, hatte im Laufe seiner Jahre verinnerlicht, dass jede Frucht über die Maßen kostbar ist, weil sie der Erde mühsam abgerungen werden muss. Die kleinste Bohne im MorgenrotLand hatte einen größeren Wert als der üppigste Strauch in Toxtlipan. Das winzigste Samenkorn war nicht weniger wichtig als die reife Frucht. Jeder einzelne Mensch hatte Bedeutung, weil nur er imstande war, diese einzigartige Blüte zu treiben, an deren Nektar sich alle anderen laben konnten.
    Behutsam öffnete der Alte seine Hand mit den Kürbiskernen und hob sie wie eine Göttergabe nach oben. Vielleicht ließ der stumme Gast auf seinem Kopf sich füttern. Kabyum Kin überlegte, ob sein Geisttier auf seine alten Tage zahm werden würde. Konnte man einen weißen R aben je zähmen?
    Die wenigen Insulaner kämpften härter um ihr Überleben, als sie es in Toxtlipan je getan hatten. Für die Muße wie die schönen Künste fehlte die Zeit. Neid, Missgunst oder Zwistigkeiten kannten die Menschen im MorgenrotLand nicht. Zu sehr waren alle damit beschäftigt, am Leben zu bleiben. So waren sie sich näher denn je. Es gab niemanden, der zurückgewollt hätte. Jeder einzelne fühlte sich und seine besonderen Talente gebraucht. Und somit geborgen. Manchmal im Frühling, wenn der Staub der Blüten auf der Zunge und in der Nase kitzelte, wenn er alles Lebendige auf den Inseln mit seinen Düften durc hdrang, wenn das frische Harz aus den Knospen quoll und einem das Herz bis zum Hals hoch hüpfte, um schon beim nächsten Schlag so schwer zu werden, dass man glaubte, es nicht länger tragen zu können, dann bemerkte Kabyum Kin in den Gesichtern der Kinder, die im MorgenrotLand geboren waren und auch an den staksigen Bewegungen mancher Halbwüchsiger, die bei der Flucht zu klein gewesen waren, um sich an Toxtlipan erinnern zu können, die gleiche Unruhe wie bei den Zugvögeln, wenn sie ihr Federkleid putzten, um sich für den Flug in den Norden zurecht zu machen. Auch bei Ragnar, dem FeuerEisMann, hatte Kabyum Kin diese Unrast schon wahrgenommen. Sie äußerte sich in üblen Launen, die seinen Freund stets dann überfielen, wenn er mit sich rang, ob er für immer bleiben oder die weite und gefahrvolle Überfahrt ins FeuerEisLand noch einmal wagen solle. Doch die erwachsenen Insulaner hatten diesen Kampf schon vor langer Zeit gefochten. Kein Mann und keine Frau würden freiwillig nach Toxtlipan zurückkehren. Es war eben ein großer Unterschied, ob man in Würde gegen den Tod kämpfte, weil man hungrig war, oder weil man in Gefahr lief, wie ein lästiges Insekt zwischen den Intrigen der Mächtigen zerquetscht zu werden. Und es war ein noch größerer Unterschied, ob man für sich selbst und seine Kinder kämpfte oder für die Machtgelüste von selbsternannten Gottgleichen und falschen Göttern.
    Der Kakadu flatterte mit aufgeregtem Flügelschlag davon und der stumme Gast, der sich soeben entschließen wollte, ein Nest in Kab yum Kins Haaren zu bauen, huschte mit einem Windstoß in die Einsamkeit hinfort. Der alte Mann wusste, dass weiße Raben sich nicht zähmen lassen. Und er wusste auch, dass sie nicht in Schwärmen leben. Sie schöpften ihre Kraft aus sich selbst. Und Kabyum Kin folgte dem Beispiel seines jenseitigen Ebenbildes.
    Ein Junge kam mit federnden Schritten durch den lachsroten Sand gelaufen und ließ sich neben Kabyum Kin auf die Kokosbastmatte fallen. "Vater", sagte er mit ruhigem Atem. "Unser Land ist rund wie ein Ei und überall von Wasser umgeben, das man nicht trinken darf, weil es so salzig schmeckt. Ich kann nicht einen kin gehen, ohne an ein Ufer zu stoßen. Die Wälder sind so licht, dass man selbst im dichtesten yax, unter der Krone der höchsten Palme, unter dem Laub des grünsten Busches, das Blau des Himmels erkennen kann. Und die Kinder weinen, wenn sie den Frauen beim Ernten unserer milpa helfen; sie glauben, dass sie verhungern müssen, weil die Kolben kaum größer sind als ihr größter Finger und die Maiskörner klein wie ein Sandkorn. Haben wir schon immer so gelebt, Vater? Oder stimmt es, was die Frauen am Feuer erzählen? Stimmt es, dass wir aus einem großen Land kommen, dessen Ufer man nie erreicht, das man nicht durchqueren kann, nicht einmal in einem tun. Ein Land, dessen Wälder grüner sein sollen als die Jade oder die Schwanzfedern des Quetzals; Wälder, deren Laubdächer dichter sind als meine

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