Die Mayfair-Hexen
auf den Tisch stellte. Etwas in ihm schien sich aufzubauen, etwas, das vielleicht explodieren würde.
Gütiger Gott, dieses Dokument ist echt, dachte Yuri.
»Sehen Sie?« Gordons Finger ruhten auf dem gewachsten Holz wie auf einem Heiligtum. »St. Ashlar«, sagte er und übersetzte noch einmal das übrige. »Und was, glauben Sie, ist in diesem Kasten? Was vermuten Sie?«
»Machen Sie schon weiter, bitte, Gordon«, sagte Michael mit einem vielsagenden Blick zu Ash.
»Sofort!« flüsterte Gordon. Dann klappte er die Schatulle auf, nahm ein großes Buch mit steifem Ledereinband heraus, legte es vor sich auf den Tisch und schob die Schatulle beiseite.
Sogleich klappte er das Buch auf und offenbarte die pergamentene Titelseite, wunderschön illustriert in Karmesinrot und Gold und Königsblau. Winzige Miniaturen sprenkelten den lateinischen Text. Sorgfältig blätterte er die Seite um. Yuri sah weitere prächtige Schriftzüge und wunderbare, winzige Illustrationen, deren ganze Pracht man nur mit einer Lupe studieren konnte.
»Schauen Sie hin, denn noch nie im Leben haben Sie ein solches Dokument gesehen.
Es ist die Geschichte der Taltos von ihren frühesten Anfängen an. Die Geschichte einer vernichteten Rasse und die eines Geständnisses, daß der Schreiber selbst – Priester, Wundertäter, Heiliger, wenn Sie wollen – kein Mensch sei, sondern einer jener verschwundenen Riesen. Es ist sein Appell an den Hl. Columba, den großen Missionar der Pikten, den Abt und Gründer des keltischen Klosters auf Iona: Die Taltos seien keine Ungeheuer, sondern Wesen mit einer unsterblichen Seele, Geschöpfe Gottes, die an der Gnade Christi teilhaben können – es ist zu herrlich!«
Plötzlich sprang Ash auf und riß Gordon das Buch aus den Händen.
Gordon stand wie erstarrt vor seinem Stuhl, und Ash überragte ihn bedrohlich.
Die anderen erhoben sich langsam. Wenn ein Mann so zornig ist, dachte Yuri, dann muß man seinen Zorn respektieren oder ihn zumindest zur Kenntnis nehmen. Still standen sie da und schauten zu ihm auf, während er Gordon anfunkelte, als wolle er ihn im nächsten Augenblick umbringen.
Ashs mildes Gesicht von Wut verzerrt zu sehen, war schrecklich. So müssen Engel mit ihrem flammenden Schwert aussehen, dachte Yuri.
Gordons Empörung wich blankem Entsetzen.
Als Ash schließlich sprach, war es ein leises Flüstern, sein früherer, sanfter Ton, aber so laut, daß die anderen es hören konnten.
»Wie können Sie es wagen, dies hier in Besitz zu nehmen?« Erzürnt hob er die Stimme. »Sie sind nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Dieb! Wie können Sie es wagen?«
»Und Sie wollen es mir wegnehmen?« erwiderte Gordon mit loderndem Blick. »Sie wollen es mir nehmen, wie Sie mir das Leben nehmen wollen? Wer sind Sie denn, daß Sie es haben wollen? Wissen Sie über Ihr eigenes Volk so viel wie ich?«
»Ich habe es geschrieben!« erklärte Ashlar, und sein Gesicht war dunkel vor Wut. »Es gehört mir, dieses Buch!« flüsterte er, als wage er nicht, laut zu sprechen. »Jedes Wort habe ich eigenhändig hineingeschrieben. Jedes Bild habe ich gemalt. Für Columba habe ich es geschrieben, ja! Und es gehört mir!« Er wich zurück und drückte das Buch an seine Brust. Er bebte, blinzelte und sprach dann wieder mit leiserer Summe: »Und all Ihr Gerede von Ihrer Forschung, von der Erinnerung an frühere Leben und von… Ketten der Erinnerung!«
Die Stille vibrierte von seinem Zorn.
Gordon schüttelte den Kopf. »Sie sind ein Hochstapler«, sagte er.
Niemand sprach.
Gordon blieb standhaft; in seiner Unverschämtheit war sein Gesichtsausdruck beinahe komisch. »Taltos, ja. St. Ashlar – niemals! Ihr Alter wäre unermeßlich!«
Niemand sprach. Niemand rührte sich. Rowan schaute Ash forschend ins Gesicht. Michael schien sie alle zu beobachten, genau wie Yuri. Ash seufzte tief. Er senkte den Kopf und hielt das Buch fest an sich gedrückt. Seine Finger an den Kanten lockerten sich ein wenig.
»Und wie alt, glauben Sie«, fragte er betrübt, »ist diese erbarmungswürdige Kreatur, die dort unten an ihrem Webstuhl sitzt?«
»Aber sie hat von dem Leben gesprochen, an das sie sich erinnerte, und an andere erinnerte Leben, die mit ihr verbunden…«
»Ach, schweigen Sie doch, Sie jämmerlicher alter Dummkopf!« verlangte Ash. Er atmete stockend, und endlich wich die Glut aus seinem Gesicht.
»Und dies haben Sie Aaron Lightner vorenthalten«, sagte er. »Dies haben Sie dem größten Gelehrten Ihres Ordens
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