Die Mayfair-Hexen
ein gekrümmter Zeigefinger lag unter der weichen Unterlippe und drückte leicht dagegen. Mit hochgezogenen Brauen schaute er ihr ins Gesicht.
»Was hätten Sie getan?« fragte Rowan. »Wenn Sie sie entdeckt hätten, meine Emaleth?«
»Das war ihr Name?« flüsterte er staunend.
»Es war der Name, den ihr Vater ihr gegeben hatte. Ihr Vater hatte mich vergewaltigt, wieder und wieder, obwohl die Fehlgeburten mein Leben bedrohten. Und diese eine, Emaleth, war aus irgendeinem Grunde schließlich stark genug, um geboren zu werden.«
Ash lehnte sich seufzend zurück, legte eine Hand auf die lederne Armlehne seines Sessels und betrachtete sie; er wirkte weder niedergeschlagen noch erbost. Aber woran wollte man es erkennen?
Für einen Sekundenbruchteil erschien es wie Wahnsinn, daß sie es ihm überhaupt erzählt hatte, ausgerechnet hier in seinem eigenen Flugzeug auf dem lautlosen Flug durch den Himmel. Andererseits war es wohl einfach unausweichlich; es mußte getan werden, wenn es irgendwie weitergehen sollte, wenn aus ihrer Begegnung etwas entstehen sollte, wenn aus dem, was sie bereits erlebt und gehört hatten, tatsächlich schon so etwas wie Liebe zwischen ihnen erwachsen war.
»Hätten Sie sie haben wollen?« fragte Rowan. »Hätten Sie womöglich Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um sie zu bekommen, sie zu retten, sie in Sicherheit zu bringen, Ihr Volk von neuem zu zeugen?«
Michael hatte Angst um sie, das sah sie in seinen Augen. Und als sie die beiden anschaute, erkannte sie, daß sie das alles eigentlich nicht nur für sie sagte. Sie sprach auch um ihrer selbst willen, die Mutter, die ihre Tochter erschossen, die auf den Abzug gedrückt hatte. Sie fuhr plötzlich zusammen und schloß fest die Augen; ein Schauder überlief sie, und sie zog die Schultern hoch und lehnte sich dann, den Kopf zur Seite gewandt, im Sessel zurück. Sie hatte gehört, wie der Körper zu Boden fiel, und vorher hatte sie gesehen, wie das Gesicht zerfiel, und sie hatte die Milch geschmeckt, die dicke, süße Milch, fast wie ein weißer Sirup, die ihr so gut getan hatte.
»Rowan«, sagte Ash behutsam. »Rowan, Rowan, Sie müssen das alles nicht um meinetwillen noch einmal durchleiden.«
»Aber Sie hätten Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um sie zu bekommen«, sagte Rowan. »Deshalb sind Sie nach England gefahren, als Samuel sie rief, als er Ihnen Yuris Geschichte erzählte. Sie sind gekommen, weil in Donnelaith ein Taltos gesehen worden war.«
Langsam nickte Ash. »Ich kann Ihnen Ihre Frage nicht beantworten. Ich weiß die Antwort nicht. Ja, ich wäre gekommen, ja. Aber hätte ich versucht, sie fortzubringen? Ich weiß es nicht.«
»Oh, ich bitte Sie – wie hätten Sie es denn nicht tun können?«
»Sie meinen, wie hätte ich darauf verzichten können, das Volk neu zu zeugen?«
»Ja.«
Er schüttelte den Kopf und schaute nachdenklich zu Boden; wieder drückte er den verkrümmten Finger unter seine Unterlippe, und sein Ellbogen ruhte auf der Armlehne des Sessels.
»Was für seltsame Hexen Sie sind, alle beide«, flüsterte er.
»Inwiefern?« fragte Michael.
Ash erhob sich plötzlich; sein Kopf berührte fast die Decke. Er streckte sich, wandte sich ab und ging mit gesenktem Kopf ein paar Schritte, bevor er sich umdrehte.
»Hören Sie, es geht nicht, daß wir uns gegenseitig solche Fragen beantworten«, sagte er. »Aber was ich Ihnen jetzt sagen kann, ist dies: Ich bin froh, daß die Frau tot ist. Ich bin froh, daß sie tot ist!« Er schüttelte den Kopf und legte eine Hand auf die schräge Sessellehne. Dabei schaute er ins Leere, und das Haar fiel ihm in die Augen, ziemlich wild jetzt, so daß er hager und dramatisch wirkte, fast wie ein Zauberer. »So wahr mir Gott helfe«, sagte er. »Ich bin erleichtert, daß Sie mir in einem Atemzug sagen, daß sie da war und daß sie nicht mehr existiert.«
Michael nickte. »Ich glaube, allmählich begreife ich.«
»Wirklich?« sagte Ash.
«Wir können diese Welt nicht miteinander teilen, nicht wahr? Unsere beiden Völker, die einander scheinbar so ähnlich und doch so ganz und gar verschieden sind.«
»Nein, wir können sie nicht miteinander teilen.« Ash schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Welche Rasse kann schon mit einer anderen zusammenleben? Welche Religion? Kriege gibt es auf der ganzen Welt, und es sind Stammeskriege und Ausrottungskriege, ob nun die Türken gegen die Kurden kämpfen oder die Europäer gegen die Araber oder die Russen gegen die Asiaten. Es wird
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