Die Mayfair-Hexen
eine kleine, schlüpfrige Hand nach der ihren. Stirb nicht, Mama.
»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnaden«, betete Granny, und Mary Jane stimmte ein, nur einen Vers später, als wäre es ein Kanon. »Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die…«
Sieh mich an, Mama, wisperte es an Monas Ohr. Sieh mich an! Mama, ich brauche dich, hilf mir, laß mich groß werden, groß, groß, groß!
»Werde groß!« riefen die Frauen, aber ihre Stimmen kamen aus weiter Ferne. »Werde groß! Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnaden, hilf ihr, groß zu werden!«
Mona lachte. So ist’s richtig, Muttergottes, hilf meinem wandelnden Baby!
Aber sie fiel noch immer unaufhörlich durch die Bäume, und ganz plötzlich packte jemand ihre beiden Hände, jawohl, und sie blickte hoch durch das funkelnde, grüne Licht und sah ihr eigenes Gesicht über sich! Ihr eigenes Gesicht, genauso blaß und mit all den Sommersprossen und den grünen Augen und den herabwallenden roten Haaren. War das ihr eigenes Ich, das da nach ihr griff, ihren Sturz beendete und sie rettete? Es war ihr eigenes Lächeln!
»Nein, Mama, ich bin’s.« Beide Hände umfaßten ihre Hände. »Sieh mich an. Ich bin Morrigan.«
Langsam öffnete sie die Augen. Sie schnappte nach Luft, versuchte zu atmen, zu atmen unter der Last, ihren Kopf hochzuheben, in die wunderschönen roten Haare zu greifen und den Kopf zu heben, hoch genug, um das Gesicht in den Händen zu halten, um es zu halten und… sie zu küssen.
24
Es schneite, als sie aufwachte. Sie trug den langen Baumwollbademantel, den sie ihr gegeben hatten, einen sehr dicken Mantel für den New Yorker Winter, und das Schlafzimmer war sehr weiß und still. Michael lag auf seinem Kopfkissen und schlief fest.
Ash arbeitete unten in seinem Büro. Das hatte er jedenfalls gesagt; vielleicht hatte er seine Aufgaben inzwischen auch erledigt und war ebenfalls schlafen gegangen.
Sie hörte nichts in diesem Marmorzimmer, in diesem stillen Schneehimmel über New York. Sie trat ans Fenster und schaute hinaus in den grauen Himmel und sah, wie die Schneeflocken ringsum Gestalt annahmen, wie sie deutlich und klein hervortraten, um schwer auf die Dächer zu fallen, auf das Fenstersims und in kleinen, anmutigen Böen sogar gegen die Scheibe.
Sie hatte sechs Stunden geschlafen. Das war genug.
Sie zog sich an, so leise sie konnte – ein einfaches schwarzes Kleid aus dem Koffer, auch eines von diesen neuen, teuren Stücken, die eine andere Frau für sie ausgesucht hatte, vielleicht extravaganter als alles, was sie sich jemals selbst gekauft hätte. Perlen über Perlen. Schuhe mit Schnürsenkeln, aber auch mit gefährlich hohen Absätzen. Schwarze Strümpfe. Ein Hauch von Make-up.
Und dann ging sie durch die stillen Korridore. Drücken Sie auf den Knopf mit dem M, hatte man ihr gesagt, und Sie werden die Puppen sehen.
Die Puppen. Was wußte sie von Puppen? In der Kindheit waren sie ihre heimliche Liebe gewesen; sie hatte sich immer geniert, es Ellie und Graham oder ihren Freundinnen zu gestehen. Zu Weihnachten hatte sie sich einen Chemiekasten gewünscht oder einen neuen Tennisschläger oder eine neue Stereoanlage für ihr Zimmer.
Der Wind heulte im Aufzugschacht wie in einem Kamin. Sie mochte dieses Geräusch.
Die Aufzugtür glitt auf und offenbarte eine holzgetäfelte Kabine mit Zierspiegeln; sie konnte sich kaum erinnern, sie am Morgen gesehen zu haben, als sie kurz vor der Dämmerung angekommen waren. Sie waren in der Dämmerung abgereist. Sie waren in der Dämmerung angekommen. Sechs Stunden waren ihnen zurückgegeben worden. Für ihren Körper war es Abend, und so fühlte sie sich, wachsam und bereit für die Nacht.
In mechanischer Lautlosigkeit ging es abwärts. Sie lauschte dem Heulen des Windes; es klang absolut gespenstisch, und sie fragte sich, ob Ash es wohl auch so gern hörte.
Am Anfang mußte es Puppen gegeben haben, Puppen, an die sie sich nicht erinnern konnte. Bekamen Mädchen nicht immer Puppen? Vielleicht nicht. Vielleicht hatte ihre liebende Stiefmutter die Hexenpuppen in der Truhe auf dem Dachboden gekannt, die aus echten Haaren und echten Knochen gemacht waren. Vielleicht hatte sie gewußt, daß es für jede Mayfair-Hexe eine solche Puppe gab. Vielleicht bekam Ellie bei Puppen eine Gänsehaut. Und es gab ja auch Leute, die unabhängig von ihrem Hintergrund, ihrem Geschmack oder ihrer religiösen Überzeugung einfach Angst vor Puppen hatten.
Hatte sie Angst vor Puppen?
Die
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