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Die Mayfair-Hexen

Die Mayfair-Hexen

Titel: Die Mayfair-Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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ihr hereingekommen war und sie beobachtete, vielleicht schon seit einer Weile. Das Glas verzerrte seinen Gesichtsausdruck ein wenig. Als er sich bewegte, war sie froh.
    Er kam auf sie zu; seine Schritte auf dem Marmor waren völlig lautlos. Sie sah, daß er die wunderschöne Bru in den Händen hielt.
    »Hier, Sie dürfen sie in den Arm nehmen«, sagte er.
    »Sie ist zerbrechlich«, sagte sie.
    »Sie ist eine Puppe.«
    Es rief unbändige Gefühle in ihr hervor, nur die linke Hand um den Kopf zu wölben. Sie hörte das zarte Klirren der Ohrringe, die den Porzellanhals berührten. Das Haar war weich, aber spröde, und an vielen Stellen sah man das Unterfutter der Perücke.
    Ah, aber sie liebte die winzigen Finger. Sie liebte diese Spitzenstrümpfe und die seidenen Petticoats, sehr alt, sehr verblichen; sie mußte fürchten, daß sie bei ihrer Berührung zerrissen.
    Ash stand sehr still da und schaute auf sie herab. Sein Gesicht war ausgeruht und beinahe ärgerlich hübsch. Das gesträhnte Haar war glänzend gebürstet, und seine Hände formten ein spitzes Dach unter seinen Lippen. Sein Anzug war heute aus weißer Seide, sehr weit geschnitten, sehr modisch, wahrscheinlich italienisch, sie wußte es wirklich nicht. Sein Hemd war aus schwarzer Seide, die Krawatte weiß. Ein großer, gertenschlanker Mann, geheimnisumwoben, mit riesigen, goldenen Manschettenknöpfen und geradezu lächerlich schönen schwarzweißen Budapester Schuhen.
    »Was für ein Gefühl gibt Ihnen die Puppe?« fragte er unschuldsvoll, als wollte er es wirklich wissen.
    »Es liegt Tugend darin«, flüsterte sie. Sie hatte Angst, ihre Stimme könnte lauter klingen als seine, und sie legte die Puppe wieder in seine Hände.
    »Tugend«, wiederholte er. Er drehte die Puppe um und sah sie an, strich ihr mit ein paar flinken, natürlichen Gesten das Haar glatt, schob es zurecht, ordnete die Rüschen ihres Kleides. Dann hob er sie hoch, küßte sie zärtlich, ließ sie langsam wieder sinken und schaute sie an. »Tugend.« Er sah Rowan an. »Aber was für ein Gefühl gibt sie Ihnen?«
    »Sie macht mich traurig«, sagte Rowan und wandte sich ab. Sie legte eine Hand auf die Vitrine neben ihr und betrachtete die deutsche Puppe, die unendlich viel natürlicher aussah, wie sie da auf einem kleinen Holzstuhl saß. MEIN LIEBLING stand in deutscher Sprache auf der Karte. Die Puppe war längst nicht so übertrieben dekorativ; sie war nicht die Kokette aus irgend jemandes Fantasien, aber sie war auf ihre Weise ebenso strahlend und vollkommen wie die Bru.
    »Traurig?« fragte er.
    »Traurig wegen einer Art von Weiblichkeit, die ich verloren oder niemals besessen habe. Es ist kein Bedauern, sondern Trauer, Trauer vielleicht um etwas, wovon ich geträumt habe, als ich jung war. Ich weiß es nicht.« Sie schaute ihn wieder an. »Ich kann keine Kinder mehr bekommen. Und die Kinder, die ich bekommen habe, waren Ungeheuer für mich. Und meine Kinder liegen zusammen begraben unter einem Baum.«
    Er nickte. Sein Gesicht zeigte Mitgefühl, so beredt, daß er kein Wort zu sprechen brauchte.
    Sie hätte gern noch mehr gesagt: daß sie im Reich der Puppen soviel Handwerkskunst und Schönheit nicht vermutet hatte, daß sie einen so interessanten Anblick nicht erwartet hatte, daß sie sich doch sehr voneinander unterschieden und daß sie einen so offenen und schlichten Zauber ausstrahlten.
    Aber unterhalb dieser Gedanken, in den kältesten Tiefen ihres Herzens, dachte sie: Ihre Schönheit ist eine traurige Schönheit, und ich weiß nicht, warum. Und die Ihre ebenfalls.
    Sie fühlte plötzlich, wenn er versuchen sollte, sie zu küssen, wenn er diese Neigung verspürte, dann würde sie ihm sehr leicht nachgeben; ihre Liebe zu Michael würde sie daran nicht hindern. Sie hoffte und betete, daß er solche Gedanken nicht im Herzen tragen möge.
    Ja, sie würde ihm gar nicht erst die Zeit dafür geben. Sie verschränkte die Arme und ging an ihm vorbei in einen neuen, noch unerforschten Bereich, wo die deutschen Puppen herrschten. Hier gab es lachende und schmollende Kinder, einfache kleine Mädchen in Baumwollkittelchen. Aber sie sah die Ausstellungsstücke nicht mehr. Unaufhörlich mußte sie daran denken, daß er hinter ihr stand und sie beobachtete. Sie fühlte seinen Blick, hörte das leise Geräusch seines Atems.
    Schließlich drehte sie sich um. Sein Blick überraschte sie; er war emotionsgeladen und erfüllt von offenkundigen Konflikten, und Ash gab sich praktisch keine Mühe, dies vor

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