Die Mayfair-Hexen
im Leben hatte sie länger als nötig vor dem Spiegel gestanden. Heute morgen hatte sie übe r haupt noch nicht hineingeschaut.
»Hör zu, ich habe nicht viel Zeit«, sagte Rowan und legte die gefalteten Hände auf den Tisch. »Ich muß ohne Umschweife mit dir reden.«
»Ja, nur zu«, sagte Mona. »Bitte.«
»Mir ist völlig klar, daß du die Erbin bist. Es gibt keinen Groll von meiner Seite. Du bist die beste denkbare Wahl. Du hast die Intelligenz, die Stabilität, die Zähigkeit. Du hast die perfe k te Gesundheit. Oh, die Extra-Chromosomen sind auch vorhanden, sicher, aber die haben Mayfair-Frauen und -Männer schon seit Jahrhunderten. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, daß das, was Weihnachten passiert ist, je wieder passieren wird.«
»Yeah, das denke ich mir auch«, sagte Mona. »Außerdem brauche ich ja keinen zu heiraten, der diese Chromosomen hat, oder? Ich bin in keinen Verwandten verliebt. Oh, ich weiß, das wird sich noch ändern, denkst du, aber ich meine, zur Zeit gibt es keine Sandkastenliebe zu jemandem, der mit den tödl i chen Genen behaftet ist.«
Rowan dachte darüber nach und nickte dann. Sie schaute in ihre Kaffeetasse, nahm den letzten Schluck und stellte die Tasse dann beiseite.
»Ich nehme dir auch nicht übel, was mit Michael passiert ist. Das muß dir ebenfalls klar sein.«
»Das ist schwer zu glauben. Ich denke nämlich, es war ein großes Unrecht, was ich da getan habe.«
»Eine Gedankenlosigkeit vielleicht, aber kein Unrecht. Außerdem, ich glaube, daß ich verstehe, was da wirklich passiert ist. Michael spricht nicht darüber. Ich meine auch nicht die Verführung. Ich meine die Wirkung.«
»Wenn ich ihn geheilt habe, dann komme ich am Ende doch nicht in die Hölle.« Mona preßte die Lippen zu einem traurigen Lächeln zusammen. Es lag mehr als nur eine Spur von Schuldbewusstsein und Selbsthaß in ihrem Gesicht, und das wußte sie. Aber sie war jetzt so erleichtert, daß sie es nicht in Worte fassen konnte.
»Du hast ihn geheilt, und vielleicht war es dir so bestimmt. Vielleicht können wir eines Tages über die Träume reden, die du hattest, und über das Victrola, das im Wohnzimmer e r schienen ist.«
»Dann hat Michael dir davon erzählt?«
»Nein, du hast mir davon erzählt. Die ganze Zeit da draußen hast du darüber nachgedacht, hast an den Walzer aus La Traviata gedacht und an Juliens Geist, der dir sagte, du solltest es tun. Aber das ist mir nicht so wichtig. Wichtig ist, daß du nicht mehr befürchtest, ich könnte dich hassen. Du mußt stark sein, um die Erbin zu werden, vor allem, wenn die Dinge so liegen wie jetzt. Da darfst du dir nicht um die falschen Dinge Sorgen machen.«
»Ja, du hast recht. Du trägst mir wirklich nichts nach. Das weiß ich.«
»Du hättest es schon früher wissen können«, sagte Rowan. »Du bist stärker als ich, weißt du. Die Gedanken und Gefühle anderer Leute zu lesen, das ist fast wie ein Trick. Mir war es als Kind immer zuwider. Es hat mir angst gemacht. Viele Ki n der mit dieser Gabe haben Angst davor. Später habe ich g e lernt, sie auf eine subtile, beinahe unbewußte Weise einzusetzen. Warte einen Herzschlag lang, wenn jemand e t was zu dir sagt, vor allem, wenn seine Worte verwirrend sind. Warte einen Herzschlag lang, und du wirst wissen, was er empfindet.«
»Du hast recht, so ist es. Ich hab’s auch versucht.«
»Es wird besser und stärker. Ich möchte meinen, bei dem, was du schon weißt – über alles -, dürfte es leichter für dich sein. Ich sollte abscheulich normal sein, eine Einserstudentin mit naturwissenschaftlichen Neigungen, aufgewachsen im Luxus eines wohlhabenden Einzelkindes. Was du bist, weißt du.«
Sie schwieg und zog eine Zigarette aus der Packung auf dem Tisch. »Es stört dich doch nicht, oder?«
»Nein, überhaupt nicht«, sagte Mona. »Ich mag den Geruch von Zigaretten, immer schon.«
Aber Rowan hielt inne, schob die Zigarette in die Packung zurück und legte das Feuerzeug daneben.
Sie sah Mona an, und ihr Gesicht wurde plötzlich wie unbeabsichtigt hart, als sei sie tief in Gedanken versunken und habe vergessen, ihr starkes Ich zu verhüllen.
Ihr Blick war so kalt und von stiller Wildheit, daß sie Mona wie geschlechtslos erschien. Ebenso gut hätte es ein Mann sein können, der sie da anschaute, diese Person mit den grauen Augen, den dunklen, geraden Augenbrauen und dem weichen blonden Haar. Oder ein Engel. Eine wunderschöne Frau war es jedenfalls. Mona war von all dem viel zu fasziniert und
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