Die Medizinfrau
betete Olivia und lehnte ihre Stirn an den Pfosten. Und Gott beschütze Amy und ihr Kind. Vor Kindbettfieber, vor einer Vereiterung der Wundnaht, vor vielen Dingen, die Mutter und Kind töten konnten. Das Baby war so winzig. Alles war an Ort und Stelle, wie es sein sollte, und das kleine Mädchen hatte bei seinem Eintritt in die Welt ein kräftiges und empörtes Geschrei von sich gegeben. Die ersten Wochen des Neugeborenen würden sehr kritisch werden. Gott gebe, daß das Kind kräftig trank und Amy reichlich Milch hatte, denn das winzige Geschöpf brauchte viel Kraft und mußte schnell wachsen.
Der blaßgraue Himmel im Osten kündigte einen neuen Tag an. Amy und ihr Baby hatte sie in Mrs. Grisolms Obhut gelassen, die eifrig bemüht war, ihre Zimperlichkeit während Amys Wehen wiedergutzumachen. Olivia brauchte dringend ein wenig frische Luft, ein heißes Bad und viel Schlaf.
Ein Schatten löste sich von der riesigen Tanne, die wie ein Wächter vor dem Haus stand.
»Gabriel! Ich dachte, du hast dich entweder zu einem wohlverdienten Schlaf hingelegt, oder bist bereits unterwegs in die Berge.«
»Ich werde jetzt losreiten. Aber ich möchte dir noch etwas sagen, bevor ich gehe.«
Olivia setzte sich müde auf die Verandatreppe. Sie hatte keine Kraft mehr, noch einmal Abschied zu nehmen. Nicht jetzt. »Ich bin dir so unendlich dankbar für deine Hilfe, Gabriel. Mehr als dankbar. Dich hat der Himmel geschickt.«
Gabriel ließ sich neben ihr nieder und blickte auf die Straße. »Mir war die ganze Zeit schlecht, und ich habe an Händen und Füßen gezittert.«
»Ich weiß, und das macht deine Assistenz um so heldenhafter.«
»Als Held hat mich noch niemand bezeichnet.«
»Weil dich niemand so gut kennt wie ich.«
»Und mit welchen Worten würdest du dich selbst bezeichnen?«
Olivia blinzelte. »Was?«
»Kurz bevor bei Amy die Wehen einsetzten, sagtest du, ich kenne dich nicht wirklich. Die Frau, die ich in der Hütte kennengelernt habe, seist du nicht wirklich, und du hattest recht. Ich kannte nicht einmal die Hälfte von dir.«
»Das stimmt. Ich weiß nicht mehr, wer die Frau dort oben war, die Brot backte, nähte, Brennholz hackte …«
»Einen verschütteten Bergmann vor seinem frühen Grab rettete«, fügte er hinzu.
»Das auch.« Sie lächelte müde. »Mit einem jungen Wolf spielte, kochte … und vieles andere. Wenn ich einmal eine alte Frau bin, werde ich an die Zeit mit dir zurückdenken und glauben, daß ich mir das alles in meiner Fantasie nur eingebildet habe.«
»Willst du mich zu einem Fantasiegebilde machen?«
Sie senkte den Blick auf ihre rotgeschrubbten Hände.
»Ich gebe zu, ich hielt deine Liebe zur Medizin für eine Art Hobby«, gestand Gabe. »Aber es ist dein ganzer Lebensinhalt, und du bist eine verdammt gute Ärztin. Ich wußte es schon, als ich zusah, wie du Katy vor dem Ersticken gerettet hast. Aber ich war so sehr von deiner weiblichen Art gefesselt, daß ich vergaß, daß du etwas Besonderes bist. Ja, du bist etwas Besonderes, Doc. Die Quacksalber in dieser Stadt hätten Amy und ihr Kind nicht gerettet. Du warst wunderbar.«
»Medizin ist meine Leidenschaft, seit ich so alt war wie die Zwillinge.«
Er schwieg, dann lächelte er verschmitzt. »Du hast noch andere Leidenschaften, Doc.«
»Das habe ich festgestellt.«
»Ich habe einige Dinge gesagt, die ich zurücknehmen möchte. Ich habe gesagt, du habest nicht den Mut, dich zu verlieben – weil ich wütend war, dich zu verlieren.«
»Ich habe mich verliebt«, entgegnete Olivia leise. »Ich habe nur nicht den Mut, mein Leben für diese Liebe von Grund auf zu ändern.«
»Das glaube ich nicht. Nachdem ich dich heute nacht gesehen habe, weiß ich, daß du den Mut hast, alles zu tun, was du wirklich tun willst.«
Sie wußte nur, daß sie nicht mehr klar denken konnte. Sie wußte nur, daß sie nicht wollte, daß er sie verließ.
»Olivia, ich liebe dich. Ich bin bereit, dich mit der Medizin zu teilen.«
Sein Mund kräuselte sich zu einem schwachen Lächeln. »Denk darüber nach, Olivia. Geh nicht nach New York zurück ohne darüber nachzudenken.«
Er zog sie an sich. Seine Lippen berührten ihre spielerisch tastend, dann besitzergreifend. Olivia hatte keine Kraft, der Hitzewelle zu widerstehen, die sie durchflutete, als seine Zunge sich zwischen ihre Lippen drängte. Sanft, aber unnachgiebig brandmarkte er sie mit seinem Verlangen und nahm ihre Seele in Besitz.
»Denk darüber nach, Olivia.«
Sie war völlig verwirrt, als
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