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Die Medizinfrau

Die Medizinfrau

Titel: Die Medizinfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Carmichael
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er in die graue, kalte Morgendämmerung eintauchte.
     
    Olivia hatte nie gewußt, welches Glück eine Familie bedeuten konnte. Ihre Eltern hatten mehr Wert auf Zuverlässigkeit und Zurückhaltung gelegt. Natürlich war sie ihren Eltern zugetan und umgekehrt, doch diese Zuneigung wurde selten gezeigt. Sie fragte sich, ob ihre Eltern je so stolz und entzückt von ihr waren wie die Talbots von ihrer kleinen Jennifer.
    Eine Woche, nachdem Amy ihr Baby durch einen Kaiserschnitt zur Welt gebracht hatte, strahlten Mutter, Vater und Kind mehr Wärme aus als das Kaminfeuer, vor dem sie saßen. Amy durfte zum ersten Mal das Bett verlassen, und Sylvester bemühte sich wie ein aufgeregtes Huhn um sie, schob ihr Kissen unter, zupfte die Decke zurecht und war ein regelrechter Quälgeist. Dieses Übermaß an Fürsorglichkeit legte er an den Tag, seit er sich von seinem fürchterlichen Kater erholt hatte. Immer wieder erklärte er in Abständen, daß die gesunde Geburt des Kindes ein Wunder und Olivia eine Heilige sei; und sogar Gabriel Danaher war ein Prachtkerl. Hier im Westen, klärte er Olivia auf, als er von Gabriels Assistenz bei Amys Entbindung erfuhr, bewertete man Männer nicht nach ihrer Vergangenheit. Was ein Mann früher einmal war, zählte nicht, nur die Gegenwart zählte, und die mit Gabriel Danaher verbrachten Stunden und gemeinsam getrunkenen Flaschen Whiskey hatten ihm Danahers wahres Wesen offenbart. Er schulde dem Mann Dank, den kein Geldbetrag aufwiegen könne.
    Amy begleitete Sylvesters wiederholte Vorträge zu diesem Thema mit eifrigem Kopfnicken und seligem Lächeln.
    Nun rutschte Amy unruhig in ihrem Sessel vor dem Kamin hin und her. »Dieses Ziehen in der Brust! Es ist Zeit, Jennifer zu stillen.«
    Sylvester errötete. »Dann lasse ich euch drei Damen allein, Liebste. Brauchst du noch etwas, bevor ich gehe?«
    »Nein, Sylvester. Danke.«
    Amy knöpfte das Nachthemd auf und legte das Baby an ihre pralle Brust. Jennifer saugte gierig, Milch tropfte über ihr winziges Kinn und sickerte in Amys Nachthemd. Olivia lächelte über die Gier des Babys. Sie hatte in der ersten Lebenswoche bereits zugenommen und sich von einem roten, runzeligen Äffchen in ein glattes rosiges und gesundes Baby verwandelt. Amy war auch aufgeblüht. Das Lächeln in ihrem Gesicht und das Strahlen in ihren Augen schien gar nicht mehr von ihr weichen zu wollen. Ihre Milch war reichlich eingeschossen, und bisher gab es keinerlei Anzeichen von Entzündung oder Kindbettfieber, die ihre Genesung gefährden könnte. Nachdem Mutter Natur ihr zwei Kinder weggenommen hatte, schien sie Amy Talbot nun mit mildem Wohlwollen zu bedenken.
    Olivia hatte ihre Müdigkeit noch nicht überwunden. Gelegentlich kamen ihr Gedanken, die Heimreise vorzubereiten. Amy würde sie nicht mehr lange brauchen – ein paar Wochen noch, wenn sie sich weiter so schnell erholte. Und in New York wartete das Leben auf sie, das sie sich aufgebaut hatte. Dort lebten ihre Freunde und ihre Familie.
    Eine Anstellung an der großen Frauen- und Kinderklinik war ihr sicher. Sie freute sich zwar auf elegante Geschäfte, Theaterpremieren, Restaurants, aber kein Wind in den Tannenwipfeln würde sie wecken, kein klarer Himmel, der sie blendete. Das Rattern der Wagenräder und der Lärm einer Millionenstadt würden die Nachtluft erfüllen statt das Klagelied der Wölfe. Und sie würde allein in ihrem Federbett schlafen im großen Haus ihrer Eltern und nur die Kissen umarmen.
    Er war bereit, sie mit der Medizin zu teilen, hatte Gabriel gesagt. Und sie habe den Mut, alles zu erreichen, was sie sich in den Kopf setzte, hatte er gesagt. Hatte sie diesen Mut wirklich? Könnte sie ihr Leben so radikal ändern für einen Mann, von dem sie kaum etwas wußte, nur weil sie ihn liebte?
    Olivia war zumute, als ginge sie den Felsgrat des Thunder Ridge entlang. Ein Schritt in eine Richtung, und sie würde in eine Zukunft gehen, in der sachliche Vorhersehbarkeit, Verantwortung, Pflichterfüllung und Einsamkeit herrschten – ein Leben, das sie anstrebte, bevor sie Gabriel Danaher kennenlernte. In der anderen Richtung lag eine Zukunft mit einer Fülle von Ungewißheiten, die ihr Angst machten.
    »Du siehst müde aus, Olivia.« Amy hob lächelnd den Kopf von ihrem stillenden Baby. Sie hatte nicht aufgehört zu lächeln, seit sie aus der Narkose aufgewacht war und erfuhr, daß sie eine Tochter geboren hatte. »Es war selbstsüchtig von mir, dich die ganze Woche bei mir zu behalten. Du solltest etwas Luft

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