Die Medizinfrau
allmählich wieder Gefühl in die Finger zurück. Candliss war jeden Tag vorbeigekommen, um ihn zu verhöhnen und mit seiner eigenen großen, machtvollen Zukunft zu prahlen. Gabe sah mit Genugtuung, daß Candliss seit seiner Verwundung stark hinkte und wünschte, der Bastard möge keinen Tag seines Lebens ohne Schmerzen sein.
Gabes Gedanken waren allerdings nicht völlig von Ace Candliss beherrscht. Meist beschäftigte er sich mit Olivia. Tag und Nacht machte er sich Sorgen um sie. Er hoffte inständig, daß sie vernünftig genug war, sich und die Zwillinge von der Mine und der Hütte fernzuhalten, bevor dieser Jeb zurückkam; der widerliche Kerl hatte seine Absichten deutlich zu erkennen gegeben. Gabe hoffte, daß sie an das Geld dachte. Als er davon sprach, war sie sehr aufgebracht und hörte kaum zu. Sie war den ganzen Weg zum Thunder Ridge heraufgeritten, den größten Teil davon nachts, um ihn vor Candliss zu warnen. Bei dem Gedanken lächelte er jedesmal – bis er sich in Erinnerung rief, wo er war, und daß kaum Aussicht bestand, daß er Olivia und seine Töchter je wiedersah.
»Aufwachen, O’Connell! Frühstück!«
Deputy Roscoe betrat den Vorraum mit einem Tablett und schlug die Tür hinter sich zu. »Sieht aus wie Maisbrei, und Miz Eloise macht den besten Maisbrei weit und breit, das sag ich Ihnen.«
Deputy Roscoe hatte noch mehr Gutes über Mrs. Eloise Crabtree zu berichten. Er hatte schon einige Stunden im leutseligen Gespräch mit seinem Gefangenen verbracht und ihm von den Tugenden der jungen Witwe vorgeschwärmt, die eine Frühstückspension auf der anderen Straßenseite betrieb und die Mahlzeiten für die Gefangenen im Stadtgefängnis zubereitete. Deputy Roscoe, ein umgänglicher junger Mensch, der gerne lachte, wobei sein Adamsapfel auf und ab hüpfte, freute sich, seinem Gefangenen die Vorzüge der Dame seines Herzens schildern zu können.
»Wurst gibt’s auch«, verkündete der Hilfssheriff. Er sperrte die Zelle auf und reichte Gabe das Tablett. »Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, sich mit der Gabel einen Tunnel zu graben«, meinte er lachend.
»Das würde etwa ein Jahr dauern. Hab’ ich so lange Zeit, bis der Richter vorbeischaut?«
»Das kann man nie wissen.«
Deputy Roscoe wurde etwas leichtsinnig, stellte Gabe fest, als der junge Mann zurück ins Büro des Marshalls ging. Die Zellentür wurde etwas weiter geöffnet und blieb eine Sekunde länger offen als nötig. Er kam den Eisenstäben eine Winzigkeit zu nahe. Eines Tages mochte das seinen Tod bedeuten, wenn er einen Gefangenen bewachte, der weniger gute Manieren hatte als Gabe.
Eine Stunde später betrat Deputy Roscoe erneut den Vorraum mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »Sie haben Besuch«, verkündete er. »Und diesmal ist es nicht Ace.« Er rief nach draußen: »Hier lang, Madam. Er kann ein wenig Gesellschaft gebrauchen.«
Gabes Herz schlug ihm bis zum Hals, als Olivia den Vorraum betrat. Der schönste Anblick, den er je hatte, in einem modischen Großstadtkleid im Blau ihrer Augen. Das zu einer Lockenfrisur hochgesteckte Haar ersetzte den strengen Nackenknoten. Und auf dieser Lockenpracht thronte schräg ein keckes, absolut lächerliches Strohhütchen.
Seine Olivia und ihre albernen Hüte. Gabe wollte durch die Gitterstäbe greifen und sie zärtlich an sich ziehen – und sie erwürgen zur gleichen Zeit. Sie dürfte auf keinen Fall in Virginia City sein!
»Danke, Marshall Roscoe.«
»Nur Deputy Roscoe, Madam.«
Olivia schenkte dem jungen Mann ein Lächeln, das einen Granitblock zum Schmelzen gebracht hätte. »Gut, Deputy. Ich danke Ihnen, daß sie mich zu Ihrem Gefangenen vorlassen. Es macht Ihnen doch nichts aus, uns ein paar Minuten allein zu lassen, oder?«
»Nun …«
»Bitte, Deputy. Sehe ich aus wie eine Person, die einem Gefangenen zum Ausbruch verhelfen würde?«
»Nein, Madam. Ich nehme an, das geht in Ordnung. Rufen Sie, wenn O’Connell Sie belästigt.«
»Darauf können Sie sich verlassen.«
Sobald der Hifssheriff die Tür hinter sich zugemacht hatte, brach es aus Gabe heraus. »Was in aller Welt machst du hier?«
»Ich besuche dich«, antwortete sie in aller Ruhe.
»Wo sind die Mädchen?«
»Bei mir natürlich. Im Moment sind sie drüben in der Pension. Ich wollte mich erst vergewissern, in welchem Zustand die Gefangenen hier gehalten werden, bevor ich zulassen konnte, daß sie dich sehen. Und beinahe wäre ich gezwungen gewesen, Katy an den Bettpfosten zu binden.« Sie lächelte. »Das
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