Die Medizinfrau
einzuschätzen.« Walters wußte selbst nicht recht, wem er glauben sollte. Aces Version der Vorgänge auf der Ranch damals vor zwei Jahren klang überzeugend, aber manche Männer redeten sich ihre Version einer Geschichte solange ein, bis sie selbst daran glaubten. In den neun Jahren, die Will O’Connell seine Ranch am Rande von Virginia City bewirtschaftete, gab es nie Schwierigkeiten mit ihm, und er hatte zurückgezogen und unauffällig gelebt. Walters hatte ihn nicht gut genug gekannt, um beurteilen zu können, wie er reagieren würde, wenn er seine Frau in den Händen von zwei fremden Männern vorfinden würde. Und O’Connell behauptete, die Candliss Brüder hätten die Frau vergewaltigt. Das wäre für manch einen gewiß Grund genug, zur Waffe zu greifen. »Alle Bewohner sind stolz, daß Montana nun ein Staat geworden ist, Ace, und alle wollen, daß Recht und Ordnung bei uns herrscht. Vielleicht schicken sie ihn für ein paar Jahre ins Kittchen statt an den Galgen.«
»Ich will den Hurensohn hängen sehen! Verflucht nochmal, wenn ich gewußt hätte, daß daran auch nur der geringste Zweifel besteht, hätte ich ihn nicht lebendig ausgeliefert.«
»Wenn du einen Sitz im Senat haben willst, mein Freund, rate ich dir dringend, den Gedanken aufzugeben, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen.«
»Die Gesetzeshüter sind aber manchmal reichlich unfähig. Kein Sheriff hat O’Connell gefangen genommen – ich habe es getan! Zum Teufel, Dennis! Das Gesetz hat keinen Finger gerührt, um den Mann ausfindig zu machen. Ich selbst habe den Steckbrief verteilt. Ich selbst habe eine Belohnung auf ihn ausgesetzt.«
»Hättest du damals den Prozeß und das Urteil abgewartet, statt den Mann lynchen zu wollen, hätte das Gesetz vielleicht mehr Interesse an ihm gezeigt.«
»Blödsinn! Ich kann nur sagen, das Gesetz hat für Recht und Ordnung zu sorgen. Mein Bruder ist tot, und mich hat sein Mörder zum Krüppel geschossen.«
Walters schüttelte den Kopf. »Ich vertrete dich so gut ich kann und fordere die Höchststrafe, Ace. Ich wünschte nur, du hättest einen Zeugen vorzuweisen. Ach übrigens, habe ich dir schon gesagt, daß O’Connell einen Anwalt hat?«
»Was?«
»Vor drei Tagen kam eine Dame in mein Büro und informierte mich, daß sie Douglas Berman mit seiner Verteidigung beauftragt habe.«
»Den Juden? Daß ich nicht lache.«
»Er ist ein tüchtiger Anwalt.«
»Die Leute mögen ihn nicht.« Er kniff seine Augen zusammen. »Wer ist die Frau?«
»Ihr Name ist Olivia Baron. Sie wohnte in der Pension Fairview mit zwei kleinen Mädchen, die aussahen, als könnten sie O’Connells Töchter sein.«
»Ist sie noch in der Stadt?«
»Nach dem Gespräch mit mir bestieg sie mit den Kindern die Postkutsche. Sie kaufte Fahrkarten nach Boulder. Ich habe es überprüft.«
»Das hättest du mir sagen müssen.«
»Wieso? Der Mann hat das Recht, sich einen Anwalt zu nehmen, und was kann es dich interessieren, ob O’Connell eine Geliebte hat? Du klagst doch ihn an.«
»Du warst aber neugierig genug, um nachzuforschen, wohin sie fuhr.«
»Ich bin mit der Untersuchung des Falles betraut, und ich überprüfe alles, was mit dem Gefangenen zusammenhängt.«
Ace lächelte, und Walters war nicht sicher, ob er diesem Lächeln trauen konnte. »So denke ich auch, Dennis. Genauso.«
Einen Tag später betrat Ace das Büro des Marshalls, um dem Gefangenen seinen täglichen Besuch abzustatten. An manchen Tagen saß er nur da und starrte den Mann an, als könne sein Haß den arroganten irischen Indianerfreund töten. Dann wieder verhöhnte er ihn, sagte O’Connell, wie viele Hinrichtungen durch Erhängen er schon gesehen hatte, von Männern, die am Ende des Stricks zuckten, bis die Schlinge sich unerbittlich zuzog, von schwarzen heraushängenden Zungen, hervorquellenden Augen und von Männern, die ihren Darm entleerten, bevor das Leben dann endgültig aus ihnen wich. Er hatte zwei Jahre damit verbracht, sich O’Connells Erhängen vorzustellen. Und er wollte, daß O’Connell sich seinen Tod gleichfalls vorstellte – in lebhaften Einzelheiten.
Heute wollte er über etwas anderes sprechen. Dennis Walters war so freundlich gewesen, ihn vom neuesten Stand der Ermittlungen zu unterrichten. Und Ace Candliss war keiner, der den Dingen tatenlos ihren Lauf ließ. Das Gesetz schuldete ihm den Tod durch Erhängen – oder eine andere Todesart – für den Mord an seinem Bruder Buck, und für die Kugel in seinem Bein, die ihn ein Leben
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