Die Melodie des Todes (German Edition)
Sie war lange fort gewesen, doch jetzt war sie endlich wieder zu Hause und wusste, was sie wollte.
Sie fragte sich, ob sie Odd anrufen und ihm sagen sollte, wo sie war, was sie getan hatte und was sie dachte.
Nein. So weit war sie noch nicht. Unsicher stand sie auf.
Ob es hier wohl irgendwo etwas zu essen gab?
*
»Ein schöner Druck«, sagte Siri Holm und zog weiße Handschuhe an, bevor sie das Heft, das Singsaker ihr gegeben hatte, in die Hände nahm.
Singsaker hatte bisher keinen Blick dafür gehabt, aber jetzt, da sie es sagte, realisierte auch er die hübschen Verzierungen auf dem Titelblatt des Drucks. Er stand direkt hinter ihr und blickte ihr über die Schulter. Der Titel »Der Güldene Frieden« war mit großen, gotischen Buchstaben gedruckt, gefolgt von den Worten, die noch mehr Eindruck auf ihn machten: »Träume erschaffen die Welt jede Nacht neu.«
Wenn das doch stimmen würde, dachte er.
Ganz unten stand noch eine weitere Zeile: »Ich verspreche Schlaf und Träume jedem, der mir lauscht.«
Waren es diese Worte, die sich in Jonas Røeds schlaflosen Wahnsinn eingebrannt hatten?, fragte er sich.
Der Hintergrund zeigte einen Musikanten mit einem Saiten instrument in den Händen, der von einer Gruppe schlafender Menschen umgeben war.
»Jon Blund«, sagte er.
»Höchstpersönlich«, lachte Siri Holm. »Und guck dir mal das Datum an.«
3. Juli 1767 stand unter dem Titel.
»Was ist damit?«, fragte er.
»Das ist das gleiche Datum, an dem die erste Ausgabe der Adressavisen erschienen ist. Die Druckerei Winding muss an diesem Tag viel zu tun gehabt haben. Dieser Druck hier war für die damalige Zeit wirklich kostbar. Ich bezweifle, dass der Herausgeber viel daran verdient hat.«
»Du meinst Jon Blund?«
»Ja, oder derjenige, der das Lied unter dem Namen Jon Blund hat drucken lassen.«
»Wir wissen noch nicht, wer das war, oder?«
»Nein, aber die Antwort könnte in dem Polizeibericht oder dem gestohlenen Brief stehen. Ist davon irgendetwas bei eurem Täter aufgetaucht?«
»Ich weiß es nicht. Ich sage dir Bescheid, wenn es so ist.«
»Aber, Odd«, sagte Siri. Sie legte den Druck beiseite und sah ihn ungewöhnlich ernst an. »Jetzt musst du mir sagen, wo Felicia ist. Sie ist einfach nicht ans Handy zu kriegen.«
Singsaker sah sie an und musterte kurz den Bauch unter ihrem hellen Pullover. War schon was zu sehen? Dann sah er sich in dem Zimmer um, in dem sie standen. Er war nicht mehr in der Gunnerusbibliothek gewesen, seit sie in dem Fall der gehäuteten Leiche im Sicherheitstrakt der Bibliothek ermittelt hatten. Es war kein gutes Gefühl, wieder hier zu sein. Aber da musste er jetzt durch.
Er nahm innerlich Anlauf und erzählte ihr alles. Als er zum Ende gekommen war, sah Siri Holm ihn mit einer Mischung aus Ernst und Verwunderung an.
»Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet«, sagte sie. »Du glaubst wirklich, dass du der Vater bist?«
»Dann bin ich es also nicht?«
»Nein, das hätte ich dir doch erzählt!«
Singsaker dachte lange nach. Dann sagte er: »Doch, ich habe es wirklich geglaubt.« Er wusste, dass sie vieles auf die leichte Schulter nahm, was für andere existenziell war, aber sicher keine Freundschaft, die ihr wichtig war. »Und ja, du hättest mir das gesagt. Wahrscheinlich habe ich dieses idiotische Geheimnis einfach nicht mehr ertragen und deshalb die erstbeste Gelegenheit genutzt, es Felicia zu erzählen. Mit deiner Schwangerschaft gab es ja plötzlich einen ganz konkreten Anlass.«
Sie sah ihn an und lächelte breit.
»Du wärst bestimmt ein guter Vater«, sagte sie. »Ein bisschen alt, vielleicht, aber gut.«
»Und ich dachte, du wärst eine gute Menschenkennerin«, antwortete er.
»Das bin ich auch.« Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. »Der Vater ist ein Literaturstudent aus Bergen. Er kommt mich am Wochenende besuchen. Ich weiß jetzt, dass es schrecklich dumm von mir war, Felicia zu sagen, mein Vater würde mich besuchen. Ich hätte euch gleich alles erzählen sollen. Das ist nur alles so schrecklich ungewohnt für mich.«
Singsaker nahm etwas in ihrem Tonfall wahr.
»Du willst doch wohl nicht sagen, dass du dich verliebt hast?«
»So weit würde ich nicht gehen. Aber er spielt Gitarre, und ich bin wirklich bereit, ihm diese Chance zu geben. Er überlegt, sein Studium hier fortzusetzen und nicht in Bergen. Mal sehen, was daraus wird.«
Er lächelte und wünschte sich, noch einmal jung zu sein.
»Was jetzt aber zählt, ist, Felicia zu erreichen«, fuhr
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