Die Melodie des Todes (German Edition)
das alles vermasseln konnte, dachte er bei sich selbst. Woran lag das? An der Sprache, die uns verwirrte und uns wegführte von der ursprünglichen Harmonie? Die Worte, die Zunge, unsere Fähigkeit, Geräusche von uns zu geben, die uns verbanden und gleichzeitig unglücklich machten? Oder waren es unsere Augen, unsere Blicke, die immer und bei allem nur das Äußerliche sahen?
Da bemerkte er die Fliegen, die sich immer wieder auf die Augen des Jungen setzten. Warum gab es in diesem Sommer in Trondheim eine solche Invasion von Fliegen? Hatten sie das der ungewöhnlichen Wärme zu verdanken? Er beschloss, dass es an der Zeit war, das Kind wieder abzugeben. Er rief Mutter Anne und bedankte sich bei ihr, dass er den kleinen Knirps hatte halten dürfen. Dann gab er ihr wie immer ein paar Schillinge für das Kinderheim.
Vom Heim, das gleich neben dem Hospital lag, ging er in ruhigem Tempo in die Stadt bis zu Engels neu erbautem Palais am Marktplatz.
Vor der Tür blieb Bayer stehen und starrte auf die Klingel. Wie alles andere war auch diese neu. Das Messing glänzte rötlich, vielleicht war es mit Kupfer aus Røros hier in der Stadt ge schmiedet worden. Engel hatte sein Wappen in die Glocke gra vieren lassen. Auch über der Tür hing eine Wappentafel in kräftigen Farben. Engels Wappen war neueren Datums und nicht seit Generationen überliefert. Die Menschen sahen in ihm einen Emporkömmling. Bayer hatte nichts gegen solche Menschen, sie hatten sich ihren Reichtum wenigstens selbst erarbeitet. Außerdem war Engel ein gebildeter Mann, der in Kopenhagen und Leipzig studiert hatte. Danach hatte er das moderate Vermögen seines Vaters, der einen Holzhandel betrieben hatte, genommen und vervielfacht. Als er nach Trondheim gekommen war, war Engel bereits ein schwerreicher Mann gewesen. Inzwischen hatte er seinen Reichtum durch Sägewerke, Schifffahrt, Handel und seine Beteiligungen an den Gruben in Røros noch weiter vermehrt. Er hatte über seinem Stand geheiratet, sich ein Wappen zeichnen lassen und schließlich das Palais erbaut, in dem er wohnte, wenn er nicht in seinem Lustschloss außerhalb der Stadt weilte.
Zurzeit widmete er sein Leben den Büchern. Seine Bibliothek umfasste an die siebentausend Bände, hieß es. Der Polizeimeister schätzte die wirkliche Zahl etwa halb so groß ein, aber für eine kleine Stadt am äußeren Rand der wissenschaftlichen Welt war das dennoch eine enorme Anzahl Bücher. Es hieß, Engel allein finanziere Windings Druckerei, obwohl die meisten seiner Bücher von dänischen, französischen und deutschen Druckereien, Buchhändlern und Sammlern stammten. Bayer hatte einige seiner besten Stunden den Büchern zu verdanken, die er sich von dem belesenen Reichen geliehen hatte. Besonders die neuesten französischen Titel, in denen es um die freie Natur des Menschen, seinen aufgeklärten Sinn ging, faszinierten ihn.
Ein Diener, ein pechschwarzer Afrikaner, der Einzige seiner Art in der Stadt, öffnete die Tür, nachdem Bayer die Messingglocke betätigt hatte. Der Mann hatte einen scharfen Blick und war äußerst sprachbegabt, und Bayer traf sich manchmal mit ihm in Søren Engels alter Küche, um Wein zu trinken und über Philosophie zu diskutieren. Er ließ den Polizeimeister herein und nahm ihm Mantel und Stock ab. Sicher ging er davon aus, dass Bayer mit Engel eine Verabredung hatte.
»Ihr habt heute nicht Euren Polizeistock dabei?«, bemerkte der Diener.
»Ich habe einen neuen bestellt«, murmelte Bayer und sah an die noch ungestrichene Decke. Der Boden unter seinen Füßen war hingegen frisch verlegt und roch nach Leinöl. Es war das erste Mal, dass er Engel in seinem neuen Palais aufsuchte. Ein Fest zur Einweihung hatte es noch nicht gegeben. Engel wartete angeblich auf ein Schiff vom Festland, das eine Ladung besonders guten Champagner bringen sollte. Außerdem waren noch immer Handwerker bei der Arbeit, und auch der Weinbrunnen, der an der Wand des Festsaals errichtet werden sollte, fehlte noch.
Am Abend vor dem Leichenfund war Bayer bei einer Art Abschiedsfeier in Engels altem Stadthaus in der Kjøpmannsgata gewesen. Engel war der Einzige der vornehmen Herren der Stadt, der den Polizeimeister auf seine Gesellschaften einlud. Der Händler ließ sich gern von Bayers scharfen Beobachtungen und amüsanten Erinnerungen aus Kopenhagen unterhalten. Besonders mochte er die Geschichten über das Leben der kleinen Kriminellen, der Straßenkinder, Armen und Dirnen in der Stadt des Königs. Bayer
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