Die Melodie des Todes (German Edition)
haben.«
»Trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir ihn in keiner Kartei haben, und da helfen dann auch keine Fingerabdrücke oder DNA-Spuren. Dieser Kerl ist schon lange außerhalb jedes Radars unterwegs.«
»Weißt du, was mir an deinen Gefühlen am besten gefällt, Singsaker?«, fragte Gronstad und lächelte schief.
»Nein.«
»Dass es eigentlich keine richtigen Gefühle sind. Du nennst das nur so, um nicht erklären zu müssen, was in deinem Kopf vor sich geht. Das Verrückte ist nur, dass du nach deiner OP noch besser geworden bist.«
Singsaker lachte nicht. Er überließ Grongstad die Feinarbeit, während er sich um das Ehepaar kümmerte. Sie saßen im Wohn zimmer, in dem Gran und er sie tags zuvor befragt hatten. Dies mal saßen sie beide auf dem Sofa. Ivar Edvardsen hatte den Arm um die Schultern seiner Frau gelegt.
Singsaker fragte sie nach einer Beschreibung des Täters, ohne Erfolg. Es war dunkel gewesen, Edvardsen hatte Angst gehabt und der Mann hatte eine Kapuze getragen und einen Schal um den Hals gewickelt, sodass der größte Teil seines Gesichts verdeckt gewesen war. Edvardsen beschrieb den Mann als unberechenbar und begründete das mit der Art, wie er sich bewegt hatte.
Dann informierte Singsaker das Ehepaar, dass die Polizei die Schrotflinte beschlagnahmen und die Umstände um den Schuss untersuchen musste. Es sei sogar möglich, dass Anklage wegen unrechtmäßigem Waffengebrauch oder Fahrlässigkeit erhoben werden würde, unabhängig von der Tatsache, dass das Opfer in diesem Fall ihre Tochter gekidnappt hatte. Andererseits würden die Bedrohung, die von dem Mann zweifelsohne ausgegangen sei, und die ohnehin bestehende nervliche Anspannung sicher strafmildernd gewertet, da Edvardsen ja mit Fug und Recht davon ausgehen musste, dass sich ein Mörder auf seinem Grund stück befand.
»Zeitmangel und fehlende Ressourcen zwingen die Polizei leider dazu, gewisse Straftaten minderprioritär zu behandeln«, fügte Singsaker seufzend hinzu. »Ich kann Ihnen aber versichern, dass Julies Verschwinden nicht dazu zählt, gewisse Nebenaspekte dieses Fall könnten allerdings ganz unten auf der Prioritätenliste landen.«
»Sie wollen damit sagen, dass Sie die Flinte konfiszieren, sich aber nicht weiter um den Schuss kümmern werden?«, fragte Elise Edvardsen ohne wirkliches Interesse für diesen Aspekt des Falles. Singsaker verstand sie gut, schließlich hatte sie ge rade ein sicheres Indiz dafür bekommen, dass ihre Tochter nicht von zu Hause weggelaufen war, sondern sich in der Gewalt eines Psychopathen befand.
»Wenn die Verletzung des Tatverdächtigen nicht schwerwiegend ist, hat Ihr Mann nichts anderes getan, als der Polizei verwertbare Beweise zu beschaffen. Jetzt kommt es in erster Linie darauf an, Sie beide hinreichend zu schützen. Wir werden Leute abstellen, die hier bei Ihnen im Haus bleiben.«
Beide Eheleute nickten.
»Ich weiß, dass Sie Ihre Tochter möglichst schnell wieder zurückhaben wollen«, sagte Singsaker. »Wir sind davon ausgegangen, dass sie nur weggelaufen ist, was leider nicht der Fall zu sein scheint. Trotzdem möchte ich Sie bitten, nicht aus dem Fokus zu verlieren, dass wir der Lösung dieses Falls näher gekommen sind. Der Täter hat sich zu erkennen gegeben, und wir haben eine konkrete Spur. Und vielleicht das Wichtigste von allem …« Er hielt inne. Die Kopfschmerzen meldeten sich wieder und er fragte sich für einen Augenblick, ob seine Worte sie in irgendeiner Weise trösten konnten. »Ich glaube, dass sie am Leben ist. Das lässt sich aus dem Handlungsverlauf klar ableiten.«
Singsaker bereute sofort, was er gesagt hatte. Sein Beruf hatte ihn gelehrt, nie mehr zu versprechen, als er halten konnte.
*
Julie Edvardsen stieß sich von dem Eimer ab, der umkippte und unter ihr verschwand. Trotzdem gelang es ihr, sich so weit in den Tunnel zu schieben, dass der Kopf bereits draußen war. Sie versuchte, ihre Hände freizubekommen.
In diesem Moment hörte sie ihn. Seine Schritte hallten durch die stille Nacht, einsam und fern, aus dem Dunkel hinter den Straßenlaternen. Dann hörte sie seinen aufgeregten, keuchenden Atem. War das Wut? Es hörte sich eher an, als hätte er Schmerzen.
Als er durch das Tor ging, das kaum zwanzig Meter von ihr entfernt war, sah sie die Spitze seines gebeugten Kopfs über dem Schneewall in der Einfahrt. Er trug eine Kapuze. Instinktiv zog sie sich etwas zurück.
Es war diese kleine Bewegung, die sie in ihrem Schneekanal ins Rutschen geraten
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