Die Melodie des Todes (German Edition)
Verschwinden nichts mit dem Mord am Kuhaugen zu tun hatte. Die wenigen Töne aus der Spieldose hatten gereicht, um alle Zweifel auszuräumen. Elise hatte die ganze Zeit über recht gehabt. Dieses Monster da draußen hatte Julie in seiner Gewalt und hielt sie irgendwo gefangen. Obgleich er eine Riesenlust hatte, ihn einfach abzuknallen, konnte er das nicht tun. Im Markvegen blieb er stehen und sah sich um. Die Straße war verwaist und dunkel. Es war keine Bewegung zu sehen. Die Atem wolke vor seinem Mund beobachtend, dachte er nach. Sie hat ten ihn beide gesehen. Klar und deutlich.
Plötzlich stand der Mann direkt vor ihm. Er richtete sich hinter einem Auto auf und ragte wie ein versteinerter Schat ten nur fünf Meter vor ihm empor. Erschrocken wich er einen Schritt zurück und legte instinktiv den Finger an den Abzug.
Der Schatten witterte seine Furcht und machte einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen. Alle Gedanken verstummten. Er wollte sich umdrehen, zurück zum Haus laufen, die Polizei anrufen, doch er rutschte aus und fiel auf die Knie, bevor er irgendetwas davon tun konnte. Der Schuss löste sich, als er sich mit dem Gewehr in der Hand am Boden abstützte. Die Bewegung des Zeigefingers hatte er kaum gespürt.
Ein Schrei kam aus der Kehle des Mannes vor ihm, bevor er sich umdrehte und schwer keuchend davonhinkte.
Was habe ich getan?, dachte Ivar Edvardsen und schaute ihm hinterher. Ich habe ihn angeschossen. Ich habe dieses Monster angeschossen.
Dann sah er das kleine Instrument im Schnee.
Ein paar Sekunden lang war sie vollkommen weg gewesen und wusste nicht, wo sie war, als sie die Augen wieder öffnete. Was war geschehen? War das alles nur ein böser Traum?
Er stand vor ihr. Die Flinte in der einen Hand, in der anderen eine blaue, herzförmige Spieldose mit einer Figur auf dem Deckel. Sie starrte ihn ungläubig an.
»Ist das die, die wir gehört haben?«, fragte sie.
Er ging neben ihr in die Hocke und legte eine Hand hinter ihren Nacken. Die Spieldose hatte er auf den Boden gestellt.
»Ich hatte keine Ahnung, dass die Waffe geladen ist. Ich muss eine Patrone im Lauf vergessen haben.«
»Das passiert dir doch sonst nicht«, sagte sie.
»Hoffen wir, dass ich ihn nicht lebensgefährlich erwischt habe.«
»Ja.« Sie richtete sich auf, zum ersten Mal klar im Kopf. Und zum ersten Mal seit dem vergangenen Abend befanden sie sich beide am gleichen Ort.
»Er hat sie entführt. Dieses Monster hat sie, oder?«, sagte er.
»Und deshalb muss er überleben«, sagte sie. »Aber nur des halb.«
Er nickte und sie sah die Tränen, die über die Wangen ihres Mannes liefen. Für sie war das alles nicht so überraschend wie für ihn. Deshalb war sie es auch, die sich schließlich erhob und zum Telefon ging.
*
Sie zweifelte nicht mehr. Die Flecken auf dem Boden und an der Wand – das war Blut. Anfänglich hatte sie diese Gewissheit völlig gelähmt, doch dann hatte sie ihr auf seltsame Weise neue Kraft gegeben.
Zielbewusst schob sie sich an der Wand auf und ab. Schon seit Stunden. Es war seit Langem vollkommen still im Haus und sie glaubte, dass er gegangen war. Wenn sie sich beeilte, gelang es ihr vielleicht, sich von den Fesseln zu befreien, be vor er wieder da war. Allmählich spürte sie, dass das Seil dünner wurde und ihre Handgelenke mehr Freiraum hatten. Und dann endlich riss das Seil mit einem lauten Ratschen. Sie wand ihre Hände aus der Schlinge, löste den Knebel und holte mehrmals tief Luft. Dann sank sie auf die Knie. Ihre Schenkel und Hüften brannten wie Feuer. Schließlich legte sie, zum ersten Mal, seit sie gefesselt worden war, die Hand auf den Bauch.
»Bist du da drin?«, flüsterte sie.
Er hatte das Seil drei Mal um ihre Handgelenke gewickelt, und so hatte sie jetzt, da es zerrissen war, ein Stück Seil, das sicher mehr als einen halben Meter lang war. Sie legte es vor sich auf den Boden und begann die Fesseln an ihren Füßen aufzuknoten.
Als sie sich ganz von ihren Fesseln befreit hatte, stand sie auf, streckte sich und fuhr sich ein letztes Mal mit der Hand über den Bauch. Jetzt musste sie schnell handeln, bevor er zurückkam. Sie hatte sich schon einen Plan zurechtgelegt und wusste, was sie tun wollte. Die Tür war verschlossen, das wusste sie. Es würde zu lange dauern, sie mit Gewalt zu öffnen, wenn ihre Kräfte dafür überhaupt noch ausreichten. Das bedeutete aber, dass sie den Hund zurücklassen musste. Sie musste versuchen, durch das Fenster zu fliehen, das war ihre
Weitere Kostenlose Bücher