Die Melodie des Todes (German Edition)
hat sie in letzter Zeit sogar im Winter eine Sonnenbrille getragen«, fügte der Nachbar erklärend hinzu.
»Wissen Sie, was sie für eine Krankheit hat?«
»Ich habe nur mit Jonas darüber gesprochen. Er meinte, sie habe es im Rücken. Aber ich weiß nicht, ob man ihm wirklich trauen kann. Dabei wirkt er ja so friedlich, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun.«
»Wenn die Frau krank ist, müsste sie doch zu Hause sein?«
»Ja, vermutlich. Aber ich habe sie lange nicht mehr gesehen. Vielleicht ist sie auch ausgezogen, das wäre auch möglich.«
»Verstehe«, sagte Singsaker und presste die Kiefer so fest zusammen, dass seine Halspastille zerkrachte.
»Hat er etwas Verbotenes getan?«, fragte der ältere Mann plötzlich und sah zu dem Streifenwagen, ehe sich sein Blick auf Gran und den uniformierten Beamten richtete, die zurück zur Straße kamen.
»Nein«, sagte Singsaker.
»Sie sind doch wohl nicht gekommen, um den Strom abzudrehen?«
»Nein, das fällt nicht in den Aufgabenbereich der Polizei«, sagte Singsaker und wünschte, sie wären tatsächlich nur wegen etwas so Banalem ausgerückt.
»Heute Abend taucht er bestimmt wieder auf. Aber in der Regel ist das ziemlich spät«, sagte der Alte. Dann ruckte er vor sichtig an der Hundeleine und ging langsam weiter. Seine Spikes knirschten, als sie sich in den harten Schnee bohrten, der auf dem Bürgersteig lag.
»Da drinnen rührt sich nichts«, sagte Gran, die zu Singsaker gekommen war.
»Das muss nicht heißen, dass keiner da ist«, sagte er und ging wieder in den Garten.
Er verließ den geräumten Weg, der zum Hauseingang führte, und stapfte durch den lockeren Schnee an der Hauswand ent lang zur Vorderseite des Hauses. Unter dem ersten Fenster blieb er stehen, trampelte den Schnee fest und stellte sich auf die Zehenspitzen. Er war gerade groß genug, um über das Fenstersims hinweg in das Wohnzimmer zu blicken.
Es war leer und aufgeräumt.
Ohne große Hoffnung ging er weiter zum nächsten Fenster. Da das Grundstück abfiel, sah man hier die Grundmauern aus dem Schnee ragen. Das Fenster lag zu hoch, um ins Zimmer zu blicken, und Singsaker sah lediglich etwas Schwarzes auf der Innenseite der angekippten Scheibe. Vielleicht ein Rollo, dach te er.
Dann blieb er stehen und kratzte sich die Operationsnarbe an der Stirn. Das Fenster war ein klassisch nordisches Modell, das sich nach außen öffnete. Er streckte sich nach oben, bekam den Rahmen mit den Fingerspitzen zu fassen und versuchte ihn aufzudrücken. Wie vermutet war es mit einer Sicherung versehen, sodass es nicht weiter geöffnet werden konnte. Resigniert ließ er es los und wollte zurück zu Gran gehen, als er die Fliegen bemerkte.
»Was ist das denn?«, sagte er zu sich selbst. »Mitten im Winter?« Ein Schwarm träger Fliegen drückte sich durch den Spalt nach draußen. Nach ein paar hoffnungslosen Flugver suchen fielen sie wie schwarze Flocken auf den verschneiten Boden.
Er bückte sich und hob eine an den Flügeln hoch. Sie war vollkommen leblos. Verwundert schnippte er sie weg, ehe er sich noch einmal zu dem Fenster ausstreckte. Dieses Mal packte er den Rahmen mit beiden Händen. Unter Aufbietung all seiner Kraft gelang es ihm, sich am Rahmen hochzuziehen, um einen Blick in den Raum zu werfen. Und da sah er, dass das kein schwarzes Rollo an der Scheibe war, wie er es zuerst angenommen hatte. Es waren Fliegen.
Das ganze Fenster war an der Innenseite von einer dicken Schicht krabbelnder, surrender Insekten bedeckt. Als er sein Gesicht ungläubig noch näher an den Spalt herandrückte, nahm er auch den Gestank wahr. Der unverkennbare Geruch des Todes, der unbeliebtere Teil seines Jobs.
»Wir gehen rein«, sagte er, als er wieder vor der Haustür stand, und befahl einem der Beamten, das notwendige Werkzeug aus dem Auto zu holen.
Der Beamte kam mit einer Axt zurück.
Gran nahm ihre Dienstwaffe und baute sich neben der Tür auf. Singsaker stand auf der anderen Seite. Die Beamten der Wache Heimdal brauchten zwei Schläge, dann sprang die Tür auf. Der Gestank schlug ihm entgegen. Der Geruch eines Men schen, der schon Tage tot war und vor sich hin faulte. Das ganze Haus stank nach Verwesung.
In Anbetracht des fürchterlichen Gestanks hatte die Ord nung im Wohnzimmer etwas Groteskes. Auch dieses Zim mer war voller Fliegen, die träge herumsurrten. Das Zimmer mit dem angekippten Fenster lag hinter der Tür am Ende des Raums.
Zuerst untersuchten sie die anderen Räume im Haus. Das einzig
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