Die Melodie des Todes (German Edition)
des Pastors nicht, blies aber auch nicht mit denjenigen in ein Horn, die die Unternehmungen in Lappland für nutzlos hielten.
Er hielt Missionierung generell für sinnlos, egal in welcher Sprache. Diese Gedanken behielt er aber für sich. Bayer war der Meinung, dass jeder Mensch frei war, egal ob wild oder zi vilisiert. Er selbst zählte sich zur letzten Kategorie und war über zeugt davon, dass die Menschen keine andere Mission brauchten als die Vernunft.
Auch der Pastor gehörte unzweifelhaft der zivilisierten Gruppe an. Er begrüßte Bayer mit vollem Namen und Titel.
»Bestimmt ist die Lösung dieses Mysteriums bei einem der Verrückten zu finden«, sagte er. »Sie hausen in dem Raum, unter dem der Sarg aufgebahrt war, in der ›Klapsbude‹, wie wir sie nennen. Es muss einer von ihnen gewesen sein. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was diese Irren mit dem Toten alles ange stellt haben. Der arme Spielmann wurde womöglich aufs Gröbste geschändet. Oh, welch ungeheuerlicher Gedanke!«
Der Polizeimeister musterte den Pastor. Seine bleiche Haut bildete einen scharfen Kontrast zu den dunklen Haaren.
»Aber ist es nicht so, verehrter Herr Pastor, dass die Tür dieser Kammer jeden Abend mit einem soliden Schloss von au ßen verriegelt wird, einem Schloss, das – wie mir zu Ohren kam – aus Deutschland importiert wurde und das robuster sein soll als jenes, das unser Stadttor geschlossen hält?«
»Ja, wir verriegeln die Tür mit einem solchen Schloss. Und nicht nur des nachts, sondern auch die meiste Zeit des Tages. Die Stadt tut gut daran, sich vor den Irren zu schützen.«
»Zweifellos. Aber war dieses Schloss denn aus irgendeinem Grund in der letzten Nacht nicht in Benutzung?«
»Natürlich war es das. Kein Schloss wird sorgsamer und mit größerer Regelmäßigkeit genutzt als dieses. Das kann ich Euch versichern.«
»Und es gab auch kein Anzeichen, dass das Schloss im Laufe der Nacht aufgebrochen wurde?«
»Nein, auch das nicht.«
»Und die Fenster der Klapsbude sind mit Gittern gesichert?«
»Der Raum hat keine Fenster. Nur eine Luke oben unter der Decke, damit etwas Licht hineinfällt. Und diese Luke ist innen wie außen mit Gittern gesichert.«
»Verstehe. Kann mir der Herr Pastor dann erklären, wie einer der Irren den Raum verlassen haben und in den Keller gegangen sein soll, um den Leichnam zu stehlen? Und welchen Weg soll der Betreffende anschließend genommen haben?«
»Wie Ihr sicher wisst, Polizeimeister, haben wir unseren eigenen Wächter.«
»Ja, ich weiß, Mikkel Hansen«, sagte Bayer.
Er kannte diesen Wächter besser unter dem Namen Kipp-Mikkel. Dieser Mann vertrug Branntwein deutlich schlechter als die meisten und war schon nach wenigen Gläsern ungeheuer wacklig auf den Beinen. Deswegen war er nicht weniger trink freudig als die anderen Trondheimer. Bayer nahm gern einen Schluck mit ihm in einem der Gasthäuser, und bevor er das Gleichgewicht verlor und viel zu früh nach Hause taumelte, war Kipp-Mikkel eine angenehme Gesellschaft. Seine Schwäche hatte auch den Vorteil, dass er sich nie im Suff in Schlägereien verwickelte, sodass Bayer ihn nicht ein einziges Mal hatte festnehmen müssen. Das allein war ein gutes Indiz für den Charakter eines Mannes, dachte der Polizeimeister.
»Nicht, dass wir ihm nicht vertrauen würden. Aber vielleicht hatte er einen Augenblick der Schwäche. Selbst der Abgebrühteste von uns kann einmal Mitleid mit den Irren bekommen und die gemeinen Kräfte vergessen, die ihrem Irrsinn zugrunde liegen«, sagte der Pastor ernsthaft.
»Dann lautet die Theorie des Pastors also wie folgt«, sagte Bayer und gab sich alle Mühe, ernst zu bleiben: »Wächter Mikkel hat im Laufe der Nacht einen oder mehrere Verrückte herausgelassen, sodass sie den Leichnam im Keller stehlen und in ihre Kammer holen konnten, wenn sie ihn nicht in einem an deren dunklen Winkel der Stadt versteckt haben, um dort Dinge mit ihm zu tun, auf die wir aus Gründen von Moral und Sittlichkeit nicht näher eingehen wollen.«
»Mag sein, dass sich das unwahrscheinlich anhört. Aber der Gedanke, dass ein geistig gesunder Mensch einen Leichnam stiehlt, erscheint mir noch unbegreiflicher, findet Ihr nicht auch?«
»Ich nehme an, dass niemand in der Klapsbude war und die Irren gezählt hat.«
»Wie meint Ihr das?«
»Wenn da drinnen alle vollzählig sind, würde das die Theo rie des Herrn Pastor entkräften, womit wir uns auf andere Mög lichkeiten konzentrieren müssten!«
»Wir wollten die
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