Die Melodie des Todes (German Edition)
Tür nicht öffnen, bevor der Herr Polizeimeister persönlich anwesend ist. Sie sind also noch nicht ge zählt, nein. Stellt Euch vor, wir hätten recht und der Tote ist dort drinnen. Bei dem Anblick allein würde ich mir wünschen, blind zu sein. Oh, welch Vorstellung, welch Ungeheuerlichkeit!«
»Wo ist Mikkel?«, fragte Bayer trocken. »Wir brauchen den Schlüssel für das Schloss.«
»Ich erachtete es als das Beste, den Schlüssel persönlich bis zu Eurem Kommen zu verwahren.«
Der Pastor zog einen großen, eisernen Schlüssel aus der Tasche seiner Kutte. »Bitte folgt mir«, sagte er ruhiger als zuvor.
Bayer folgte dem Pastor und fragte sich, ob der Mann selbst an seine seltsame Theorie glaubte. Er hatte irgendwo gelesen, dass im Glauben der Samen Menschen ihre Körper verlassen und auf eine Art Geisterreise gehen können. Vielleicht fürchtete der Pastor in Wahrheit, dass einer der Irren im Geiste in den Keller gereist und den Toten mitgenommen hatte. Und jetzt hatte er sich diese verrückte Geschichte mit Kipp-Mikkel ausgedacht, um seinen eigenen Irrglauben zu kaschieren. Bayer war nur froh, dass er selbst keinem religiösen Irrglauben anhing. Weder dem der Heiden noch dem der Christen. Er fragte sich, ob diese Wahnvorstellungen nicht Ausdruck einer schwerwiegenderen Verrücktheit waren als die, unter der die Bewoh ner der Klapsbude litten. Für Bayer bestand die Welt einzig und allein aus dem, was er sehen konnte.
Im Hospital zündete der Pastor eine Kerze an und reichte sie Bayer zusammen mit dem Schlüssel. Dann zeigte er auf die Tür, blieb selbst aber in sicherem Abstand stehen.
Bayer ging auf die Tür zu. »Wie viele wohnen da drin?«, fragte er, ehe er den Schlüssel ins Schloss steckte.
»Sieben. Es sind sieben Irre«, sagte der Pastor.
Bayer schloss auf. Das Schloss öffnete sich mit einem Schnal zen, das fast wie der erste Schluck aus einer vollen Flasche Branntwein klang. Kipp-Mikkel schien das Schloss gut geölt zu haben.
Bayer öffnete die Tür und starrte ins Dunkel. Er hob die Leuchte vor sich in die Höhe und sah die Augen der Menschen in der Kammer aufleuchten. Sie lagen auf Pritschen, die an der Wand befestigt waren. Einer saß in der Ecke und murmelte etwas vor sich, starrte dann aber plötzlich in Richtung des Lichts, das Bayer in der Hand hielt, als könnte ihm dies seinen Seelenfrieden bringen. Als er Bayers schwere und wenig engelartige Erscheinung sah, ließ er den Kopf wieder sinken und starrte auf die schmutzigen Holzdielen.
Hier stecken also die, dachte Bayer, deren einziges Verbrechen darin besteht, an eine andere Welt zu glauben, als die, in der sie leben. Er zählte sie. Es waren sieben. Sie waren vollzählig. Es stank nach Schweiß, Speiseresten, Urin und Kot, nicht aber nach Tod und Verwesung. Bayer schloss die Tür und sperrte die Verrückten wieder ein.
»Und der Herr Pastor hat in der Zeitspanne, seit der Leichnam verschwunden ist, nichts anderes Ungewöhnliches bemerkt?«
Sie standen wieder vor dem Hospital, zwischen dem Hauptgebäude und der Kirche, einem hübschen, achteckigen Bau, den der Holländer Johan Christoffer Hempel vor mehr als einem halben Jahrhundert entworfen hatte. Bayer hatte den Pastor endlich dazu gebracht, auch andere Täter als nur die Irren ins Auge zu fassen.
»Es waren keine Fremden zu Besuch?«
»Nein, niemand, der zu so etwas in der Lage wäre.« Der Pastor sah ihn entschieden an.
»Dann waren Fremde hier?«
»Ja, schon. Ich kann Euch aber versichern, dass es sich bei diesen nie und nimmer um Leichenschänder handelt. Gestern morgen war ein sehr vornehmer Herr hier. Er habe viel Gutes über unser Krankenhaus gehört und wusste, dass wir uns in diesem Haus seit jeher der ärztlichen Kunst gewidmet haben, seit in Norwegen eigene Könige das Land regierten. Ja, er hat das Hospital wirklich außerordentlich gewürdigt und den Wunsch vorgebracht, es durch eine stattliche Spende zu unterstützen. Dann hat er darum gebeten, sich umsehen zu dürfen, was ich ihm natürlich gewährt habe. Ich hatte in der Sakristei zu tun, weshalb ich ihm zugestand, sich alles auf eigene Faust anzusehen. Danach war er überraschend verschwunden. Ich rechne aber damit, dass er in Bälde zurückkehrt, um die in Aussicht gestellte, höchst willkommene Spende zu bringen.«
»Und das war, bevor der Kirchendiener den Sarg zunageln wollte?«
»Ja, das muss vorher gewesen sein, da ich schließlich vom Geschrei des Kirchendieners bei meiner Arbeit in der Kirche
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