Die Mission des Wanderchirurgen
Wandertagen den Stecken quer über der Schulter tragend –, erzählten sie einander aus ihrem bisherigen Leben, und es stellte sich heraus, dass Massimo zwar der Sohn einer armen Wäscherin war, aber trotzdem eine Lateinschule in Mestro besucht hatte. Die Mutter hatte Tag und Nacht dafür geschuftet, denn der Unterricht war nicht billig. Doch es war ihr größter Wunsch gewesen, ihn etwas lernen zu lassen, damit er später das Noviziat in einem Kloster antreten konnte. Es war anders gekommen. Mit dem Erscheinen Arnulfs, der seit dem Auftreten der Pest anno 76 pausenlos in Oberitalien umhergezogen war, hatte sich alles geändert. Gleich beim ersten Mal, als Massimo die Geißler sah, war er von ihrer Botschaft fasziniert gewesen. Fortan hatte er seiner Mutter in den Ohren gelegen, ihn doch ziehen zu lassen. Endlich, vor einem Jahr, hatte sie nachgegeben in der Hoffnung, die Märsche der Geißler seien nur eine vorübergehende Station von Massimos Weg ins Kloster.
Vitus erzählte von seiner Zeit in Campodios. Er schilderte das einfache, aber erfüllte Leben der Zisterzienser, berichtete von den Brüdern, ihren großen Aufgaben und kleinen menschlichen Schwächen. Er zeichnete ein Bild von Abt Gaudeck, dem vergleichsweise jungen Vorsteher, der die Mathematik und die Sterne so sehr liebte, und auch von Pater Thomas, dem Prior und Arzt des Klosters, sowie von Cullus, der den Versen des Ovid zugetan war.
Der Magister erzählte von seiner Zeit in La Coruña, wo er an der dortigen Schule für Jurisprudenz ein beschauliches Leben geführt hatte, bis er dem Universalgelehrten Conradus Magnus begegnet war, den er kennen und schätzen gelernt hatte und der im Häretikerhemd sein Leben auf dem Scheiterhaufen verlor. Fast wäre er ebenfalls gestorben, doch nicht bei einem Autodafé, sondern in den Folterkammern der Inquisition. Hier beendete der kleine, zähe Mann seinen Bericht, denn er wollte Massimo die Einzelheiten ersparen.
Vitus nahm den Faden auf und erzählte, wie er den Magister im Kerker kennen gelernt hatte, wobei er verschwieg, warum er überhaupt ins Verlies geworfen worden war. Schuld daran trug niemand anderer als Enano, der ihn damals bei der Inquisition denunziert hatte, um an sein Geld zu kommen. Eine Schandtat, die der Wicht anschließend tausendmal bereut und wieder gutgemacht hatte.
Der Zwerg seinerseits tat etwas, was er normalerweise niemals bei jemandem tat, den er erst so kurz kannte: Er berichtete von seinen Jahren als Kind und Jüngling in Askunesien, erzählte, wie tagein, tagaus Kübel von Spott über ihm entleert worden waren, wie er versucht hatte, eine Arbeit zu bekommen, irgendeine, und wenn es die niedrigste dieser Welt gewesen wäre. Doch der Mensch war und ist grausam, und Enano, der damals noch nicht so hieß, sondern lediglich mit Namen wie Krüppel, Geblasener, Missgeburt und Ähnlichem bedacht wurde, war es eines Tages zu dumm geworden. Er hatte es satt, zu bitten und betteln, und er hatte beschlossen, sein künftiges Leben als kleiner Gauner, Betrüger und Giftmischer fortzuführen. In diesem Abschnitt seines Daseins war er ins Spanische ausgewandert, hatte Vitus kennen gelernt und dessen Hilfsbereitschaft und Ahnungslosigkeit als überaus lächerlich gefunden. Doch seitdem er der Dritte im Bunde der beiden Kerkerfreunde geworden war, hatte er sein altes Leben abgestreift wie die Puppe, aus der ein schöner Falter hervorkriecht …
Drei Tage vergingen so mit mehr oder weniger kurzweiligen Plaudereien, drei Tage, in denen die liebliche oberitalienische Landschaft an ihnen vorbeizog, und mit jeder Stunde, die er unter seinen neuen Freunden weilte, fühlte Massimo sich wohler. Sogar seine Angst, Meister Arnulf und seine Geißler könnten ihnen unverhofft begegnen, hatte sich gelegt. Irgendwann, kurz bevor sie Padua, die Stadt des heiligen Antonius, erreichten, sagte er: »Mein Großonkel heißt Romano. Romano Tassini.«
Bläulicher Rauch stieg aus dem alten, aber gepflegten Werkstattschuppen von Romano Tassini empor. Es war um die Mittagszeit, doch der Qualm roch weniger nach einer Mahlzeit, sondern vielmehr nach Öl und heißem Holz.
Vitus und seine Gefährten traten neugierig näher. Romano würde Massimo, seinen Großneffen, nicht erkennen, so viel stand fest, denn er hatte ihn niemals zuvor gesehen. Sie schauten durch eines der offenen Fenster hinein und erblickten einen dürren, alten Mann, der pfeifend vor sich hin arbeitete. In dem Raum herrschte wenig Licht, weshalb die
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