Die Mission des Wanderchirurgen
Westpyrenäen. Ich bete und arbeite in der dortigen Augustinerabtei, und das nun schon seit über vierzig Jahren. Der Allmächtige möge mir vergeben, aber in dieser langen Zeit habe ich es niemals geschafft, mich auf den Weg nach Santiago de Compostela zu machen, um dort in der Kathedrale das Zertifikat zu erhalten, welches die Gewähr dafür ist, dass mir armem Sünder zweihundert Tage des Fegefeuers erlassen werden. Aber jetzt bin ich dazu wild entschlossen, auch wenn die Füße nicht so recht wollen.«
»Was ist mit Euren Füßen, Pater?«, fragte der blonde Arzt.
Der Pater zögerte. »Nun, die Ursache für meine Schwierigkeiten dürfte ebenso lächerlich wie schmerzhaft sein: Ich fürchte, es ist ein Hühnerauge.«
»Ein Hühnerauge? Aha. Angesichts Eurer stramm sitzenden Stiefel würde es mich nicht wundern, wenn Eure Einschätzung stimmt. Setzt Euch wieder auf die Steinbank, ich will mir die Sache einmal ansehen.«
Der Gottesmann gehorchte und schnürte ächzend seine Stiefel auf. Es waren Marterinstrumente, die er in der Vergangenheit mit Ausdrücken wie Reibeisen, Beißzangen, lederne Daumenschrauben für die Füße und Ähnlichem bedacht hatte. Mitunter war ihm auch ein Fluch dabei herausgerutscht, was jeweils ein zehnfaches Ave-Maria notwendig gemacht hatte.
Die Stiefel. Natürlich waren sie der Grund für seine Leiden. Aber er war nun einmal auf sie angewiesen, denn er gehörte nicht zu den unbeschuhten Augustinern, sondern zu den beschuhten. Festes Gehwerkzeug, das hatten alle Brüder ihm vor Beginn seiner Wanderung geraten, sei das A und O einer Pilgerreise. Also hatte er sich die Marterinstrumente ausgeliehen …
Die Hände des blonden Arztes waren sanft und geschickt. Er wirkte überaus gelassen, ganz so, als habe er in seinen jungen Jahren schon vieles erlebt. Jetzt blickte er auf und sagte: »Es ist in der Tat ein Hühnerauge, Pater. Ich werde es aufweichen und anschließend herausschneiden. Allerdings brauche ich dazu heißes Wasser. Wisst Ihr, wie weit ist es noch bis Logroño ist?«
Ernesto zuckte mit den Schultern. »Genau weiß ich es nicht, aber ich schätze, noch mindestens fünf Meilen.«
»Dann machen wir hier Rast. Ihr seid herzlich eingeladen, unser Gast zu sein.«
»Nein, nein, das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich marschiere weiter nach Logroño. In der dortigen Kirche wird ein Glaubensbruder sicher Speise und Trank mit mir teilen. Was sind schon fünf Meilen! Die zwinge ich noch. Habe es schließlich schon über Larrasoana, Puente la Reina, Estella und Los Arcos bis hierher geschafft.«
»Und würdet es keine weitere Meile mehr schaffen. Nein, nein, ich muss darauf bestehen, dass Ihr bei uns bleibt.«
Pater Ernesto fügte sich in sein Schicksal. »Begebe dich niemals in die Hand eines Arztes«, seufzte er, »wenn du gesund bleiben willst. Aber nichts für ungut, ich bin Euch sehr dankbar, Cirurgicus. Wenn ich es recht bedenke, sind die vierhundertfünfzig Meilen bis Santiago de Compostela, die noch vor mir liegen, doch kein Pappenstiel. Darf ich fragen, woher Ihr mit Euren Gefährten kommt?«
»Ursprünglich aus England. Jetzt aber aus Barcelona. Wir sind stetig westwärts gezogen, quer durch Katalonien und Aragon, den Ebro hinauf über Zaragoza, Tudela und Calahorra. Ein mühseliger, langsamer Marsch, obwohl wir sehr in Eile sind. Aber Ihr seht ja selbst: Mit einer Ziege und einem Säugling sind keine Höchstleistungen zu erziehlen.«
Ernesto nickte. »Sicher, sicher. Aber verzeiht: Sagtet Ihr England? Wie passt das mit Barcelona und dem Kloster Campodios zusammen? Darauf kann ich mir schlecht einen Reim machen. Es hört sich nach einer ziemlich komplizierten Geschichte an. Würdet Ihr mir sie erzählen? Ich liebe Geschichten.«
»Gern. Aber nicht, bevor ich Euch behandelt habe.«
Vitus saß in dem gemeinsamen Zelt und betrachtete beim Schein einer Laterne das von einem kräftigen Hornzapfen befreite Hühnerauge. Dann legte er das Operationsinstrument, einen scharfen Löffel, beiseite und deckte die Stelle mit einer Kompresse ab. »Das Schlimmste ist überstanden, Pater.«
Der Magister, der assistiert hatte, räumte die Utensilien für den Eingriff fort. »So ist es«, bekräftigte er, »morgen könnt Ihr wieder hüpfen wie ein Frosch oder, um es geziemender auszudrücken, weiter auf den Pfaden des Herrn wandeln. Allerdings nicht in Euren Stiefeln. Im Interesse Eurer fünften Zehe rate ich Euch dringend, den weiteren Weg in diesen gelben Pantoffeln zu
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