Die Mission
ihr gefunden hatte, wie Ella dachte, aber vielleicht teilten sie auch nur die Abneigung gegenüber Norma Williams. »Na gut. Noch was. Da unten ist es verdammt dunkel, und manche kriegen es mit der Angst. Mir bleibt nichts anderes übrig, als jeden zum Schweigen zu bringen, der die Nerven verliert und anfängt, zu schreien oder zu heulen.« Róza berührte das große Messer, das in ihrem Gürtel steckte. »Verstanden?«
Alle nickten.
»In den Kanälen darf kein Licht gemacht werden.«
»Wie wollen Sie denn wissen, wohin wir gehen, wenn wir kein Licht machen dürfen?«, fragte Norma mit unüberhörbar zittriger Stimme.
»Ich zähle. So und so viele Schritte, dann nach links, so und so viele Schritte, nach rechts. Und noch was: Da unten ist es verdammt kalt. Der Frühling steht vor der Tür, Schnee und Eis schmelzen. Die Kanäle sind voller Schmelzwasser, die Strömung ist stark, also zieht euch warm an und sorgt für robustes Schuhwerk.« Sie warf einen verächtlichen Blick auf Normas Schuhe. »Keine Ballettschuhe, mit so etwas kommst du keine hundert Meter weit. Und wenn du aus den Kanälen rauskletterst, sind dir alle Zehen erfroren.«
»Wie weit müssen wir denn gehen?«, fragte Ella.
»Wenn wir Glück haben und keinen Anglos begegnen, ein bisschen mehr als eine Meile, wenn wir Pech haben … keine Ahnung. Dann kommt es darauf an, welche Umwege wir machen müssen. Gefährlich wird es, wenn wir unter Gullis entlangkommen, vor allem in Gegenden, die von der SS kontrolliert werden. Sie haben Horchposten an den Kanaldeckeln, und wenn die uns hören, werfen sie Handgranaten hinunter.«
»Na wunderbar«, raunte Norma. »Gibt es da unten auch Ratten?«, wollte sie wissen. Allein die Vorstellung jagte ihr Schauer über den Rücken.
»Nein. Die Wände der Kanalisation bestehen aus ManteLit, sie sind glatt und vollkommen rund und bieten Ratten keine Möglichkeit, Nester zu bauen.« Róza wandte sich Norma zu. »Ich habe gehört, dass dein Knie verletzt ist. Wirst du eine Meile durchhalten, ohne dass es schlappmacht? Da unten geht es hart zu, und ich werde dich bestimmt nicht tragen.«
»Keine Angst, Rambo, ich halte schon durch«, gab Norma zurück.
»Na schön. Wir bewegen uns im Gänsemarsch, jeder hält sich am Gürtel seines Vordermannes fest. So kann sich niemand verirren oder auf die Nase fallen. Ihr habt zehn Minuten, um euch fertigzumachen. Ich gebe euch etwas Kampfer zum Inhalieren. Es wird den Gestank nicht beseitigen, aber wenigstens erträglicher machen.«
Vanka lehnte sich vor und flüsterte Ella ins Ohr: »Und ich habe einen ganzen Tiegel Schweineschmalz dabei …«
Als sie den Kanaldeckel öffneten, entwichen die giftigen Gase seufzend aus dem Schacht. Es stank dermaßen, dass Ella einen Schritt zurücktreten musste, was ihr nicht gerade leichtfiel, nachdem Vanka sie dazu überredet hatte, drei Paar Hosen übereinander anzuziehen.
Obendrein hatte er darauf bestanden, dass sie ihren Körper mit Schmalz einrieb.
Jetzt roch sie wie ein backfertiges Huhn, ehe man es in die Röhre steckt, aber das war kein Vergleich mit dem Gestank, der aus der Kanalisation stieg. Einen Augenblick glaubte Ella, sich übergeben zu müssen. Der Geruch erinnerte sie an die Chemiestunde in der Schule – Hydrogensulfat –, doch hier war der üble Geruch nach faulen Eiern mit dem nach Fäkalien vermischt.
Sie konnte es nicht fassen, dass sie da runter mussten. War sie verrückt geworden? Dass sie durch einen Fluss voller Scheiße waten müsste, um sich die fünf Millionen zu verdienen, hatte der General nicht gesagt.
Arschloch.
Kaum hatten sie den Kanaldeckel entfernt, war Róza in ihrem Element. »Ich gehe vor«, sagte sie und inspizierte ein letztes Mal ihre Begleiter, um sich zu vergewissern, dass sie die Schnürsenkel doppelt gebunden hatten und Handschuhe trugen. Es war wirklich zum Lachen, dass ein Kind gestandene Männer wie Vanka und Feldwebel Zawadzski in Augenschein nahm, aber Ella war so erschrocken, dass sie nicht einmal ein Grinsen zustande brachte. »Wenn ich unten angekommen bin, gehe ich nach links in Richtung Fluss.« Róza zeigte zum Rhein, um jegliche Missverständnisse auszuschließen. »Du, Dämonin, kommst nach mir, halt dich hinten an meinem Gürtel fest, und zwar, ohne loszulassen, bis wir da sind. Danach kommst du«, Róza zeigte auf den Feldwebel, »und dann du.« Ella nickte. »Ganz zuletzt Oberst Maykow. Und vergesst nicht: keinen Mucks! Unser aller Leben hängt davon ab.«
Nachdem sie ihre
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