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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Wein«, antwortete sie. »Dann vielleicht das Konfekt.«
    »Schade«, bekannte er, und sein Bedauern zupfte ihr am Herzen.
    Er hob ihr Kinn und träufelte den Wein, der sämig und zu warm war, aus einem Zinnbecher zwischen ihre Lippen. Sie musste lachen, weil er so sorgfältig jeden Tropfen, der ihr den Hals hinabrann, abtupfte. Als der fingerhohe Becher leer war, schob er die weiche Schokolade hinterdrein, sie murmelte »Mehr«, und er schenkte den Becher wieder voll.
    Sie hatte schlimme Tage hinter sich. Gegen die schändlichen Parlamentserlasse, die es Polizisten in Hafenstädten erlaubten, Prostituierte festzunehmen und in Spitäler für Geschlechtskranke zu sperren, waren sie auf die Straße gegangen und von Polizeieinheiten eingekesselt worden. Mit Schlagstöcken hatten die Männer Demonstrantinnen niedergeknüppelt, und eine der Frauen, Harriet, die ihren sechzig Jahre alten Körper noch immer feilbieten musste, war dabei gestorben. Lydia trug eine Beule an der Schläfe und die erschütternde Erfahrung davon, von anderen Menschen geschlagen zu werden. Sie hatte sich nie in ihrem Leben so gedemütigt gefühlt.
    Mit fünfzehn anderen wurde sie in eine nach Urin stinkende Zelle gesperrt. Eine Frau geriet, nachdem die Eisentür sich schloss, in Panik, warf sich zu Boden und krümmte sich wimmernd die endlose Nacht hindurch. Am Morgen war Horatio mit Geld und einem Anwalt gekommen, aber die Nacht in der Zelle konnte Lydia nicht vergessen. Sie hörte noch immer ihre Mutter im Schlaf vor Angst um sie weinen, während sie selbst sich von einer Seite auf die andere wälzte und vergeblich gegen das Gefühl der Ohnmacht kämpfte.
    Es erschien ihr falsch, auf dem Schoß dieses vom Leben verhätschelten Adonis in der Sonne zu liegen und sich mit Wein und Pralinen füttern zu lassen, nachdem sie am eigenen Leib erfahren hatte, was Männer Frauen antaten. Etwas in ihr mahnte, sie müsse den Mann, der sie mit seiner Zärtlichkeit einlullte, als Feind betrachten, aber etwas anderes brachte es nicht fertig. Horatio schüttete ihr den letzten Tropfen in den Mund, rollte eine Strähne ihres Haars um seine Finger und saß lange mit ihr still. Um sie sang und zirpte das verlockende Lied des Sommers und verhieß ihr Geschenke, die sich beim nächsten Regen in Luft auflösen würden.
    »Lydia?«, fragte er irgendwann. Ihren Namen sprach er noch immer aus wie am ersten Tag, als er ihr gesagt hatte, der Name passe zu ihr. »Bist du ganz sicher, dass du keinen Kuss willst?«
    »Hör damit auf«, fuhr sie ihn an, weil sie ganz sicher war, dass sie einen wollte – seine Lippen auf ihren, die nass vom Wein waren, seinen Atem kitzelnd auf ihrer Haut. »Warum kannst du mir nicht einfach meinen Frieden lassen? Was willst du von mir?«
    »Soll ich darauf antworten?«, fragte er zurück.
    »Spiel nicht den Einfaltspinsel. Warum hätte ich sonst gefragt?«
    Er ließ ihr Haar los. »Ich will dich heiraten«, sagte er.
    Mit einem Ruck setzte sie sich auf. »Bist du verrückt? Ich heirate nicht, und wenn doch, dann gewiss nicht dich.«
    »Wen dann? Sag mir, wer der Kerl ist, und ich bringe ihn um.«
    Sie hob den Kopf und beging einen Fehler. Sie hätte alles tun, aber nicht ihn ansehen dürfen. Er kniete vor ihr im Gras, hatte Rock und Weste beiseitegeworfen und das Hemd am Kragen geöffnet. Der Wind hob sein Haar, sein Lächeln verkroch sich, und seine Augen leuchteten und liebten sie.
    »Hast du es deinem Vater schon erzählt?« Ihre Stimme triefte vor Hohn. »Ich wette, er war außer sich vor Begeisterung. Und was machen wir mit meiner Mutter? Geben wir die im Arbeitshaus ab, wo sie hergekommen ist?«
    »Wir nehmen sie zu uns«, sagte Horatio.
    »Ach, und davon ist dein Vater auch begeistert?«
    »Was geht es meinen Vater an?«
    »Nun, du wohnst in seinem Haus und nährst dich von seinem Geld, oder nicht? Ich zumindest, wenn ich dein Vater wäre, fände, es ginge mich etwas an.«
    »Ich wohne nicht mehr bei ihm«, erwiderte Horatio. Er hatte sich aufgesetzt, kreuzte die Beine und sah dazwischen ins Gras. »Ich habe eine Wohnung in Portsmouth gemietet, hinter der Commercial Road. Es ist kein Palast, aber es ist völlig in Ordnung, und das zweite Schlafzimmer, das deine Mutter nehmen könnte, geht auf einen Gemeindegarten hinaus.«
    Sie musste sich verhört haben. Horatio Weaver, der seine Anzüge maßschneidern ließ und im Theater eine Loge mietete, war in zwei Schlafzimmern mit Blick auf den Gemeindegarten schlicht nicht vorstellbar. »Wie

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