Die Mondrose
schon, ihn endlich getroffen zu haben, da wandte sein Sohn sich ihm noch einmal zu. »Es könnte mir beinahe leidtun«, sagte er. »Du hast dir so viel Mühe gegeben, und jetzt verderbe ich dir den Spaß. Du kannst mich nicht mehr enterben. Ich habe mich gestern selbst enterbt. Die Dokumente stellt dir der Notar in den nächsten Tagen zu.« Wieder wandte er sich zur Tür, und diesmal ging er tatsächlich. »Und ehe du mir androhst, mich aus dem Haus zu werfen«, fügte er mit der Klinke in der Hand hinzu, »ich wohne ab heute nicht mehr hier. Keine Sorge, von der Fülle deiner Besitztümer habe ich nichts mitgenommen.«
Sein Leben mit dem Sohn lief in so rasender Folge vor Hector ab, dass Wirklichkeit und Wunsch sich vermischten. All die hochfliegenden Träume, die er bei der Geburt des Stammhalters gehegt hatte, verschwammen mit der Kälte und Leere, die ihm entgegenschlugen. Sein Vater hatte ihm nie Beachtung geschenkt. Er hingegen hatte alles getan, um seinem Sohn den Weg zu ebnen, und doch besaß er den Sohn so wenig, wie er den Vater besessen hatte. Keiner von beiden erwies ihm auch nur eine Spur von Dankbarkeit. Von Respekt. Von Liebe.
Wenn das dein Ernst ist, werde ich dich zerstören, schwor er sich und ballte die Fäuste, bis seine Nägel sich ins Fleisch der Handballen bohrten. Ich werde zwei Briefe mit Forderungen schreiben, mich ein wenig schadlos halten, um zu Kräften zu kommen, und dann werde ich einen Weg ersinnen, um dir den Garaus zu machen. Ich habe Macht. Ich habe Geduld. Wer immer mir Unrecht getan hat, dem vergebe ich nie. Meinem Bruder Hyperion nicht und der dreisten Mildred nicht, dem Verräter März nicht und schon gar nicht dir. Horatio drückte die Klinke hinunter. »Wohin willst du denn gehen?«, hörte Hector sich stammeln.
»Das soll nicht deine Sorge sein«, erwiderte Horatio.
»Und wovon willst du leben?«, brach es noch einmal aus Hector heraus. »Vielleicht von deiner kindischen Sternenguckerei?«
»Aber nicht doch.« Horatio verzog den Mund zum Lächeln. »Sterne begucke ich mir lediglich zum privaten Vergnügen. Beruflich habe ich mich seit geraumer Zeit auf ein anderes Gebiet der Physik verlegt.«
Hector wollte nicht fragen. Er kannte die Antwort, ehe er die Frage aussprach, und spürte, wie Übelkeit ihm in die Kehle stieg. »Auf was für ein Gebiet der Physik?«
Horatios Lächeln entblößte zwei Reihen bemerkenswert schöner Zähne. »Elektrizität«, sagte er, nickte ihm zu und ging.
Kapitel 36
Southsea bei Portsmouth, früher süßer Sommer
S ein Vater besaß mehrere Wagen und Pferde, die Horatio jederzeit hätte nutzen können, aber er kutschierte nicht gern. Im Mai des Jahres 1883 kaufte er einen schönen stämmigen Grauschimmel und lud Lydia ein, mit ihm aus der Stadt hinauszureiten und die herrlichen Tage auszukosten.
Lydia war nie zuvor geritten, sie fand Pferde furchteinflößend. Horatio half ihr, sich vor ihn auf den Rücken des Grauschimmels zu setzen, und als sie aufschrie, weil sie fürchtete, abzurutschen, lachte er und sagte, sie kämpfe für die Gleichberechtigung der Frau, also solle sie sich gefälligst das Recht herausnehmen, zu Pferd zu sitzen wie ein Mann.
Sie schalt ihn aus. Dass er leichtfertig Witze über einen Kampf riss, für den eben erst eine Frau gestorben war, wollte sie ihm nicht erlauben, und außerdem war es dekadent, so viel Geld für ein Pferd auszugeben. Aber die Tage, an denen sie schließlich hintereinander auf dem Pferd aus der Stadt zockelten, waren süß und unwiederbringlich, und so sehr Lydia sich sträubte, in ihrem Herzen bewahrte sie jedes Bild, jedes Flüstern und jeden Geruch.
Sie ritten an der Garnisonskirche und an der Ruine aus der Zeit der Tudor-Könige vorbei, ließen die quirligen Strände, an denen sich erste Badegäste tummelten, hinter sich und tauchten in den Wald ein, wo Mücken die Luft zum Sirren brachten und Kuckucke die Stunden zählten. Farne und Fichtenzweige filterten das Gleißen der Sonne, und auf einer Lichtung machten sie Rast. Horatio knotete den Zügel des Pferds an einen Baumstumpf, während Lydia sich rücklings ins lange feuchte Gras legte, und als er fertig war, kniete er nieder und bettete ihren Kopf in seinen Schoß. Sie hätte es ihm verbieten sollen, aber die köstliche Schwere, die über sie kam, überwältigte sie.
»Was möchte dein Mund am liebsten?«, fragte er und spielte mit ihrem Haar. »Einen Becher roten Wein, ein Stück zerschmolzenes Konfekt oder einen Kuss?«
»Erst den
Weitere Kostenlose Bücher