Die Mondrose
wo ihr Vater versuchte, ihr in Wasser gelösten Zucker einzuflößen. »Was hat sie?«, fragte Esther, als ihr Vater sich und Nora eine Atempause gönnte. »Einen Schock?«
Nicht ohne Erstaunen blickte er auf und nickte. »Das Problem ist, dass wir sehr vieles Schock nennen, von dem wir in Wahrheit nicht wissen, was es bewirkt.«
»Und weißt du, was den Schock bei Nora bewirkt hat?«
»Ich kann es nur vermuten«, erwiderte ihr Vater. »Meiner Ansicht nach leidet Noras Körper an lebensbedrohlicher Unterzuckerung. Ich kann hier nichts mehr für sie tun. Sie hat das Bewusstsein verloren, und wenn ich weiter versuche, ihr noch etwas einzuflößen, erstickt sie.«
»Du musst es ihr injizieren! Sonst stirbt sie doch!«
Noch einmal nickte er mit einer Art Erstaunen. »Ich muss sie ins Spital schaffen. Sag Horatio, er soll sie hinunter zum Wagen tragen.«
Sie fuhren alle mit ins Spital. Auf stickigen, überfüllten Gängen warteten sie, bis in der ersten grauen Morgenstunde Will Ackroyd sie wissen ließ, dass Nora auf die Glykose-Injektion reagierte und überleben würde. »Sie ist sehr schwach und sollte jetzt nicht transportiert werden. Aber wenn sich ihr Zustand stabilisiert hat, kann sie nach Hause.« Er wandte sich an Horatio. »Ihre Schwester ist schwerkrank. Wenn sie nicht in Behandlung kommt, bringt der nächste Schock dieser Art sie um.«
»Meine Mutter ist mit ihr von Arzt zu Arzt gelaufen«, fuhr Horatio auf. »Es ist nie etwas dabei herausgekommen, immer hieß es, mit Nora stehe alles zum Besten, sie müsse nur gezwungen werden, ordentlich zu essen.«
»Ich hoffe, niemand hat sie gezwungen«, bemerkte Ackroyd.
Horatio senkte den Kopf und schwieg.
»Sie müssen mit mir sprechen«, sagte Ackroyd. »Kein Arzt kann Ihrer Schwester helfen, wenn er nicht weiß, was ihr zugestoßen ist.«
»Doch«, erwiderte Horatio hart, die Augen zu Schlitzen verengt. »Wir haben sie gezwungen. Wir haben das ganze Zeug genommen, fette weiße Fischleiber, gepökelte Zunge, in Sahne triefende Kuchen, und es ihr in den Mund gestopft, bis sie es wieder erbrochen hat. Wir haben sie mit dem Kopf in das Erbrochene gedrückt. Und liegen lassen.«
Lydia ging zu ihm. »Nicht du«, sagte sie und schob ihm den Arm unter den Rock ohne Schöße. »Nicht du hast deiner Schwester das angetan. Auch wenn dein Vater dich gezwungen hat, dabei zuzusehen.«
Ackroyd sandte ihr ein dankbares Lächeln. »Ich weiß, man hört so etwas nicht gern«, begann er. »Aber Sie sollten mit Ihrer Schwester einen Spezialisten aufsuchen. Sie braucht dringend kundige Hilfe.«
»Einen Spezialisten?«, bellte Horatio. »Was meinen Sie damit? Einen Irrenarzt? Einen dieser Psychiker, die Kranken die Seele aus dem Leib peitschen, sie auf Drehstühlen zu Tode kurbeln oder in Zwangsjacken ersticken?«
»Scht«, machte Lydia und streichelte seinen Rücken. »Lass den Doktor ausreden, ja? Nora lebt jetzt bei uns, und wir werden niemandem erlauben, sie zu quälen. Meiner Mutter sage ich, dass es in unserem Haus keinen Weißfisch, keine Pökelzunge und keinen Kuchen in Sahne mehr gibt.«
Noch einmal lächelte Ackroyd ihr dankbar zu. »Ich weiß, die Psychiatrie hat einen schlimmen Ruf, und die meisten Anstalten haben ihn mehr als verdient«, sagte er. »Aber Sie sollen doch Ihre Schwester in gar keine Anstalt einweisen lassen. Sie ist nirgendwo so gut aufgehoben wie unter Menschen, die sie lieben. Ich würde Ihnen lediglich jemanden empfehlen, der nach modernen sozialpsychiatrischen Gesichtspunkten praktiziert und sich mit dem Leiden Ihrer Schwester auskennt.«
»Was ist es?«, fragte Horatio tonlos.
»Die Psychiater nennen es nervöse Anorexie«, antwortete Ackroyd. »Die Sucht, den eigenen Körper auszuhungern bis zur Unsichtbarkeit. Die Erscheinung ist bereits seit dem Altertum bekannt, aber dennoch wagt kaum ein Arzt, sich damit zu befassen.«
»Ist es heilbar?«
Ackroyd verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln und nickte ihm zu. »Wenn ein Mensch von so viel Liebe umgeben ist wie Ihre Schwester, lassen sich die Schmerzen, die zu diesem Leiden führen, lindern.«
Esther sah die Bewegung, die durch Horatios Körper stob und ein Zeichen von Erlösung war. Nora würde Hilfe bekommen. Sie würde aus dem Alptraum, in dem sie gefangen war, eines Tages befreit werden. Übernächtigt, wie sie waren, gerieten sie alle in ein Hochgefühl, das anhielt, bis sie Nora abholen und nach Hause bringen durften. Zum Sprechen war sie noch zu schwach, doch ihr wie
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