Die Mondrose
geschrumpftes Gesicht schien entspannt. Rebecca weinte vor Freude. Esther glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie Horatio, der Nora trug, beim Arm nahm und ihn flüchtig an sich drückte.
Es war ein Tag von Wundern und Zeichen. Ihr Vater kam hinunter, um sich von ihr zu verabschieden. »Ich hätte mich um Nora kümmern müssen, nicht wahr?«, fragte er, erwartete aber keine Antwort. »Du warst gut gestern Nacht. Besonnen. Vielleicht tust du ja recht daran, dieses Studium in Kanada zu verfolgen.«
Vermutlich wäre dies der Augenblick gewesen, ihm zu sagen, dass er sich um Phoebe kümmern musste, dem Verdacht gegen Redknapp nachgehen und mit Mildred reden. Aber das, was er als Letztes gesagt hatte, tat Esther so wohl, dass sie darüber Phoebe und Redknapp und sämtliche Sorgen vergaß. Sie wollte mit ihren Freunden heimfahren, sich schlafen legen und von einer seligen Zukunft als Ärztin träumen. Vielleicht sogar als Psychiaterin. In einer neuen Welt, in der jede Krankheit des Körpers und jedes Leid der Seele geheilt werden konnten.
Kapitel 40
Regensommer
D en Stapel Briefe nahm Mildred mit in ihr Zimmer und schloss sich ein. Schon lange hatte sie es aufgegeben, Priscilla zu sagen, sie wolle nicht gestört werden. Diese hielt sich doch nie daran, sondern machte, so alt und krumm, wie sie war, was ihr in den Sinn kam. Liebend gern hätte Mildred sie gefeuert, aber Priscilla gehörte zur Textur des Hauses, sie war zu sehr verwoben mit dem Gespinst der Familie und hätte an einem Faden ziehen können, um es aufzulösen. Man würde sie wie eine Mähre füttern müssen bis zum Tod.
Längst hatte Mildred sich abgewöhnt, sich auf das Öffnen von Briefen zu freuen. Die, die in diesem Sommer kamen, waren nicht erfreulich – Rechnungen, die höher als erwartet ausfielen, Absagen von Gästen, die seit Jahren unter ihrem Dach logierten. Es war die verfluchte Dachterrasse des Victoriana, die ihnen die Luft abschnürte. Wer es sich leisten konnte, wollte unter der Glaskuppel in den grauen Himmel glotzen und sich das Blau des Südens dazu einbilden. Mount Othrys würde auch eine brauchen, daran führte kein Weg vorbei. Sobald diese flaue Saison überstanden, Esther abgereist und Phoebes Hochzeit unter Dach und Fach war, würde sie sich darum kümmern. Sie musste sich um einen Kredit bewerben, was in Anbetracht ihrer sinkenden Einnahmen kein Kinderspiel war. Wenn aber der Erpresser sie für den Rest des Jahres verschonte und Granvilles Familie für den größten Teil des Hausstands aufkam, würde es zu schaffen sein.
Und Granvilles Familie würde ja für den größten Teil aufkommen. Zwar sollten die Einzelheiten erst heute Abend besprochen werden, wenn Granville in aller Form um Phoebes Hand anhielt, doch bei dem festlichen Souper im Cathedral, zu dem Granville vor einigen Tagen geladen hatte, waren deutliche Hinweise gefallen. Mildred musste sich mit der Post beeilen, um Granvilles Ankunft nicht zu versäumen. Zwar war dies offiziell Hyperions Aufgabe, und Mildred hatte ihn eigens angewiesen, zeitig nach Hause zu kommen, doch zog sie es vor, zugegen zu sein. Hyperion verstand von alldem schließlich nicht das Geringste, er brachte es fertig und verdarb kurz vor dem Ziel den ganzen Coup.
Mildred hielt inne und lauschte. Geräusche zur Linken verrieten, dass Hyperion sich tatsächlich in dem zum Herrenzimmer deklarierten Raum auf Granvilles Besuch vorbereitete. Geräusche von oben, aus dem Zimmer oder dem Bad der Mädchen, waren schwerer zu deuten. War jemandem übel? Chastity? Das fehlte noch, dass das hysterische Ding in den großen Tag mit einer Krankheit pfuschte. Wieder einmal dachte Mildred, was sie seit Chastitys Geburt allzu oft gedacht hatte: Wo der Tod sich so viele Kinder holt, wieso lässt er eines zurück, das sich selbst und andern eine Last ist?
Aber sie wollte jetzt an Phoebe denken, an den Moment des Glücks, der ihr bevorstand. Wie sie es sich erträumt hatte, würde Phoebe einen Mann von Adel heiraten. Granville war zwar nur der drittgeborene Sohn eines Barons, doch eine bessere Partie hatte in ihren Kreisen niemand vorzuweisen. Schon gar nicht Bernice, dachte sie und hätte um ein Haar aufgelacht.
Sie nahm sich die nächsten Briefe vor und riss sie auf. Wie als Zeichen, dass dieser ein Glückstag war, enthielten sie keine Hiobsbotschaft, und bei dem letzten Schreiben musste es sich um einen Irrtum handeln. Es war eine Rechnung über mehrere Abendessen im Cathedral, jeweils zu fünf Gängen, mit
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