Die Mondrose
wurde ihr klar, wie töricht ihre zweite Frage klang. Von Männern, die Frauen um ihres Erbes willen heiraten wollten, hörte man an jeder Straßenecke.
»Ich weiß es nicht.« Horatio wandte sich ihr zu. »Ich denke nur, wir haben besser ein Auge darauf, wenn wir nicht wollen, dass Phoebe zu Schaden kommt. Ich hatte schon angeboten, mir den Menschen zur Brust zu nehmen, aber Lydia meint, ich soll mich nicht aufspielen wie ein Pascha, der seinen Harem bewacht.«
»Damit hat Lydia ganz recht«, bemerkte Rebecca spitz. »Du hast mit deiner eigenen Besserung genug zu tun, ohne dass du uns Frauen ins Handwerk pfuschst.«
Lydia sollte es ihr nicht erlauben, dachte Esther. Sie wusste, es war nicht halb so grob gemeint, wie es ausgesprochen wurde, aber es klang wie ein Peitschenhieb, und wenn Horatios Stolz irgendwann gegen die Hiebe aufbegehrte, konnte man ihm keinen Vorwurf daraus machen. Im Augenblick aber sah er nicht aus, als wollte er aufbegehren, sondern streichelte Lydia, deren Kopf an seiner Schulter lehnte.
»Vielleicht sprichst du einmal mit Phoebe, Esther«, sagte Lydia friedfertig. »Wir wollen keine Gerüchte in die Welt setzen, aber ich gebe zu, mir ist der Mann so angenehm wie ein Tiegel Wagenschmiere. Mir wäre wohler, wenn wir Phoebe wenigstens gewarnt hätten.«
Esther wollte noch fragen, was denn Horatio und Lydia genau gegen Sergeant Redknapp vorzubringen hatten, und auch, was es mit Chastity und ihrem Erbrecht auf sich hatte. Gleich darauf geschah jedoch etwas, das allen Gesprächen darüber den Faden abschnitt. Den Abend über hatte Esther keinen Anlass gesehen, sich Sorgen um Nora zu machen. Im Gegenteil. Sie schien sich mit Rebecca angefreundet zu haben und beteiligte sich sogar ab und an am Gespräch. Jetzt aber begann sie auf einmal am ganzen Leib zu schlottern und mit den Zähnen zu klappern. »Dir ist kalt«, bemerkte Rebecca. »Ich hole dir eine Decke.«
»Nein, lass nur«, erwiderte Nora, und ihre Stimme klang nicht klar. »Das kann ich doch selbst tun.« Mit einem Lächeln erhob sie sich und schwankte drei Schritte in Richtung Haus. Dann warf sie die Arme um den Leib, krümmte sich und brach zusammen. Mit einem Satz waren Horatio und Rebecca bei ihr, fielen auf die Knie und beugten sich über sie.
»Ein Arzt!«, rief Esther, drängte sich zwischen sie und tastete nach Noras Puls, der so schwach war, dass sie Mühe hatte, ihn zu finden. Sie war nicht völlig bewusstlos, bewegte krampfend die Kiefer, schien jedoch nichts, was Esther zu ihr sagte, zu hören. Obwohl ihre Haut eiskalt war, brach ihr der Schweiß aus den Poren. »Wir müssen aus dem Spital einen Arzt holen.«
Horatio sollte gehen, er besaß ein Pferd und ritt wie ein Berserker. Er aber weigerte sich stur wie ein Kind, seine Schwester zu verlassen, bis Lydia ihn bei den Schultern packte und schüttelte. »Komm doch zu Verstand! So hilfst du ihr nicht!« Er wirkte wie in Trance, doch indem sie ihn nicht losließ, gelang es ihr, ihn zu sich zu bringen. Endlich rannte er los, zäumte das Pferd nur auf und ritt ohne Sattel in die Nacht.
Rebecca, die fieberhaft über Noras blutleeres Gesicht strich, blickte auf. »Was war los?«, fragte sie mit bebender Stimme. »In dem verfluchten Haus, in dem dieses Mädchen aufgezogen wurde – was zur Hölle war da los?«
Esther fiel nichts ein, als hilflos mit den Schultern zu zucken. »Genau weiß ich es auch nicht, keine von uns war gern dort. Onkel Hector war wohl mit seinen Kindern ungewöhnlich streng …«
»Nein«, sagte Lydia, »das ist keine Strenge. Eltern, die zu ihren Kindern streng sind, versuchen sie zu lebensfähigen Menschen zu erziehen, aber Hector Weaver hat versucht die Lebensfähigkeit in seinen Kindern zu zerbrechen. Er hat Horatio nicht erzogen, Esther, er hat ihn misshandelt, und ich bin mir nicht sicher, ob ich wissen möchte, was er mit Nora gemacht hat.«
Ich auch nicht, durchfuhr es Esther, die die Hand ihrer Base drückte. Sie hatte ihr den Kragen geöffnet und ihr den Kopf auf Horatios Jerseypullover gelagert. Mehr konnte sie nicht für sie tun. Nur beten, dass ihr Vater es konnte. Und dass er bald kam.
»Ich will es wissen«, sagte Rebecca.
»Dann wirst du Nora fragen müssen, nicht uns«, entgegnete Lydia. »So wie ich Horatio gefragt habe.«
Esther war zu verängstigt, um sich über diese Gesprächsfetzen zu wundern. Sie gingen ihr erst später im Kopf herum, lange nachdem ihr Vater und Will Ackroyd gekommen waren und sie Nora ins Haus geschafft hatten,
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