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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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doch er war zu erschüttert dazu. Solange niemand etwas aussprach, besaß es keine Wirklichkeit, sondern konnte sich noch immer als Traum entpuppen. Nettlewood aber hatte es ausgesprochen. Mit der Gasanstalt ging es rapide bergab. Den Betrag, den er Victor März für den Kauf eines zweiten Hotels geliehen hatte, hätte er sich bereits nicht mehr leisten können. Zurückfordern konnte er das Geld aber auch nicht – im Vertrag war festgelegt, dass März erst in der nächsten Saison mit der Rückzahlung beginnen musste. Er konnte nur eines, einen Brief schreiben und diesmal mehr fordern als je zuvor. Der Gedanke übte keinen Reiz mehr auf ihn aus. Er tat es nur noch, um seinen Hals zu retten, um Geld in die Hand zu bekommen, das er Bernice geben konnte, damit sie endlich still war.
    Bernice war nicht still. Sie brüllte wie aufgespießt. »Meine Kinder, meine Kinder, meine Kinder! Immer hast du geprahlt, was du aus deiner Familie machen wirst – und was hast du daraus gemacht? Einen Scherbenhaufen! Die Bälger, die dein Bruder von einer Londoner Straßendirne hat, machen mehr her als das, was von meinen Kindern übrig ist!«
    Das war zu viel, mehr als irgendein Mann sich in seinem Haus gefallen lassen musste. Hundertmal hatte er sich ausgemalt, wie er dieses Weibsbild packte, herumdrehte und ihr mit lautem Klatschen den Hintern versohlte, den sie sich auf seine Kosten angefressen hatte. Er wusste, dass es Männer gab, die es taten, aber er hatte immer zu viel Respekt vor ihrer Herkunft gehabt. Jetzt holte er aus und ohrfeigte sie. Das Geräusch tat ihm wohl. Er atmete auf.
    Im nächsten Moment klatschte ihm ihre Hand mit einer Kraft ins Gesicht, dass ihm schwarz vor Augen wurde und er hintenüber an die Wand taumelte. Er hatte vergessen, dass sie gut und gern doppelt so schwer war wie er. Als er zu sich kam, brannte seine Wange wie Feuer, ihm war schwindlig und die Schmach raubte ihm die Stimme. Seine eigene Frau hatte es gewagt, ihn wie einen dummen Jungen zu ohrfeigen.
    Sie stand vor ihm und stemmte die Hände in die fetten Hüften. »Das überlegst du dir besser zweimal«, zischte sie. »Du hast wohl vergessen, was meine Familie in dieser Stadt gilt. Glaubst du, mein Bruder weiß nicht längst, wie ich es mit dir getroffen habe? Mein Bruder holt mich morgen von hier weg, wenn ich es will – und mit mir die saftige Mitgift, die mein Vater dir gezahlt hat. Solltest du das Geld, das mir zusteht, mit deinem sogenannten Geschäftssinn verpulvert haben, wirst du eben dein Haus verkaufen müssen. Mount Olymp! Habe ich dir eigentlich je gesagt, wie lächerlich das klingt?«
    Einen Brief schreiben, sprach sich Hector im Geiste vor, immer wieder dieselbe Formel, wie er sich als Junge Formeln vorgesprochen hatte, wenn sein Vater ihn abgekanzelt hatte. Eines Tages werde ich mich rächen. Eines Tages werde ich mich rächen. Eines Tages werde ich …
    »Gute Nacht, Hector«, sagte Bernice. »Hab viel Vergnügen über deiner Korrespondenz.«
    Einen Brief schreiben. Wenn sie weg ist, werde ich einen Brief schreiben. So viel Geld fordern, dass Mildred Adams der Atem stockt. Dass sie das Haus meines Bruders unter den Hammer bringen muss. Dass ihre Bälger, die mehr hermachen als meine, wie meine Mutter auf der Straße enden. Gleich wenn Bernice weg ist, werde ich einen Brief schreiben …
    »Ach, eines noch«, sagte Bernice. »Zur Teeparty in der Admiralität brauchst du mich nicht zu begleiten. Mein Bruder legt auf deine Anwesenheit keinen gesteigerten Wert.«

    So war es ihr Leben lang gewesen. Sobald Mildred sich von einem Schock erholte und begriff, wie die Dinge lagen, handelte sie. Zwei Tage war es her, dass ihr erneut ein Kartenhaus zusammengestürzt war, und jetzt stand sie hier, in dem engen, fensterlosen Empfangsraum des New Goal – des erst vor zehn Jahren fertiggestellten Gefängnisses von Portsmouth. Sie trug ein zweiteiliges Kleid aus schwarzem Satin. In ihrer Jugend hatte man den Stoff mit der Mörderin Manning verbunden, heute hingegen gab sie in dieser Bekleidung samt bis zur Kehle geschlossener Bluse ein Inbild bürgerlicher Wohlanständigkeit ab.
    Sie hielt die Hände über einem Täschchen aus Samt gefaltet und hoffte, dass der Uniformierte, der mit einer Mappe unter dem Arm zurückkehrte, nicht bemerkte, wie sie zitterten. Mit einem Kopfschütteln setzte sich der Mann, der keinen Bart, aber dichte, lockige Koteletten trug. »Ich fürchte, ich kann nichts für Sie tun, Madam.«
    Er war noch jung, nicht älter

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