Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
Vom Netzwerk:
nichts.« Hyperion nahm ihr die Seife aus der Hand und hob das Tischchen auf. »Bitte tragen Sie das Essen auf, damit meine Großmutter nicht warten muss.«
    Mit einem Schnaufen warf Priscilla den Kopf zurück und stampfte die Stufen hinunter. Mildred hätte ihren letzten Rest Selbstachtung darauf verwettet, dass die Alte am Fuß der Treppe wartete, dass sie jede Einzelheit ihrer Beschämung miterlebt und aus tiefstem Herzen genossen hatte. Etwas berührte sie am Arm. Hyperions Hand, von der sich Haut in Fetzen schälte. »Es tut mir leid, Mildred. Ich hätte mich um Sie kümmern müssen. Bitte nehmen Sie es nicht zu schwer.«
    Mildred erwiderte nichts. Hörte dem Pumpen ihres Herzens zu.
    Hyperion zuckte mit den Schultern. »Ein kluger Mann hat einmal über uns gesagt, wir Weavers seien in der Tat Titanen. Können im eigenen Haus keine Ordnung halten, bis uns kein Fremder, sondern das eigene Blut einen Strick daraus dreht.«
    Nichts hielt den Strom auf, der aus Mildred herausbrach. »Von dem geschwollenen Salm versteh ich einen Dreck«, fuhr sie ihn an. »Und ich weiß auch nicht, was verdammte Titanen sind, ich komm aus Londons Gosse, mir bringt niemand nichts bei.«
    Kurz war es so still auf dem Gang, dass man unten im Küchentrakt Sarah mit dem Geschirr klappern hörte. Dann lachte Hyperion, hob die Hände vors Gesicht und trat zurück. »Nicht böse werden. Ich lache nicht, um Sie zu verhöhnen, sondern weil mir das, was Sie sagen, gefällt. Die Titanen sind das älteste Göttergeschlecht der griechischen Mythologie. Sie waren dem Untergang geweiht, und aus ihrer Asche stiegen die Olympischen Götter hervor, doch eine kleine Weile regierten sie die Welt in schönem Schmerz. Dieses Haus ist nach dem Berg, auf dem sie lebten, benannt. Mount Othrys. Nicht Mount Olymp. Meine Mutter fand, sie liebe das Schöne, das scheitert, mehr als das, was grob genug zum Überleben ist. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen irgendwann mehr.«
    »Ich glaube nicht, dass ich will.«
    Noch einmal lachte er. »Das kann ich verstehen. Hören Sie, ich bin sehr müde, ich hatte gerade die Hand auf einem Herzen, das zu schlagen aufhörte. Ich fürchte, ich bin dem Abendessen unten nicht gewachsen. Gehen Sie mit mir essen? Als Friedensangebot?«
    Er streckte ihr die Hand hin, die auf dem sterbenden Herzen gelegen hatte. Ihr eigenes schlug so stark, dass ihr die Brust schmerzte.

    Mildred war nie zuvor zum Essen ausgegangen. Die aus der Hand verschlungenen Pasteten in Whitechapel zählten nicht, und die Nacht im Dog and Donkey erst recht nicht, denn wenn ein Mann wie Hyperion Weaver eine Dame zum Essen ausführte, dann dachte er nicht an Brot und Käse in miesen Kaschemmen. Zudem wollte Mildred jene Nacht vergessen. Leider rief sich gerade das, was man vergessen wollte, beharrlich in Erinnerung.
    Natürlich war Hyperion Mitglied in einem Club, aber diese Örtlichkeit blieb Männern vorbehalten. Mit Mildred ließ er sich in den Stadtkern von Portsmouth fahren, zum Hotel Cathedral, gegenüber der Sankt-Thomas-Kathedrale. Der lichtdurchflutete Speisesaal war in Weiß und Gold gehalten, die Wände mit Spiegeln behängt, die den Glanz der Kandelaber und Kerzenflammen hundertfach zurückwarfen. Von einem Kellner im Frack wurde Hyperion mit Namen begrüßt und an einen weiß gedeckten Tisch geführt. Ein weiterer Kellner nahm Mildred den Mantel von den Schultern.
    Es war so warm im Saal, als wäre es nirgendwo kalt, und alle Stimmen, selbst das Klappern von Besteck, so gedämpft, als hätte hier nie ein Mensch gebrüllt. Hyperion stützte den Ellbogen auf den Tisch und das Gesicht in eine Hand. Mit dem goldenen Schein auf der Wange erschien er unirdisch schön. Er fragte sie, was sie gern essen wolle, und als sie nichts wusste, fragte er, ob sie wie er nur wenig Appetit verspüre.
    »Im Gegenteil«, platzte Mildred heraus, »mir knurrt der Magen«, und dann hätte sie vor Scham unter den Tisch flüchten wollen.
    »Das ist schön«, sagte Hyperion. »Dass Sie Hunger haben, meine ich. Ich begegne so vielen Menschen, die essen, ohne dass es sie danach verlangt. Gestatten Sie, dass ich für Sie wähle?«
    Er nannte dem befrackten Kellner seine Wünsche, und kurz darauf wurden in steter Folge Speisen an den Tisch getragen, von denen Mildred jede einzelne genoss. Die klare, leicht pfeffrige Suppe stammte vom Fleisch von Fasanen, der Schweinebraten, aus dem Saft troff, wurde mit Minzsauce, Rosenkohl und winzigen Kartöffelchen serviert, und als sie sicher

Weitere Kostenlose Bücher