Die Mondrose
war, keinen Bissen mehr essen zu können, gab es noch Rahmbutter und Gebäckteilchen, eingelegtes Obst und eine Creme von Himbeeren. Hyperion nahm von allem wenig, hielt die Hand aufgestützt und sah ihr mit halbem Lächeln zu. Während sie sich den Mund wischte, suchte sie fieberhaft nach etwas, das sie sagen konnte. Die ständige Sorge, ein falsches Wort in den Mund zu nehmen, strengte sie an. Stattdessen sprach Hyperion. »Es tut mir von Herzen leid«, sagte er.
»Was tut Ihnen leid?«
»Dass ich ein solcher Feigling bin und alles Unangenehme vor mir herschiebe. Bitte üben Sie Nachsicht. Geben Sie mir noch ein wenig Zeit.«
Sie verstand. Das Unangenehme, das er vor sich herschob, war das Gespräch mit seiner Familie, in dem es um ihre Zukunft ging. Soweit Mildred bekannt war, gab es außer Nell und Hector Weaver keine weiteren Verwandten, und der Bruder hatte in der Sache eigentlich nichts mitzusprechen, da er nicht zum Haus gehörte. Blieb die Großmutter, der er würde mitteilen müssen, dass ihre Herrschaft über Mount Othrys zu Ende war und dass es sich bei der Frau, in deren Hände er diese Herrschaft legen wollte, um ihr Dienstmädchen handelte. Mildred stieg Hitze in die Wangen. »Ja«, sagte sie schnell, »ja, gewiss.« Sie würde ihm alle Zeit der Welt geben, so schwer sie sich mit Geduld auch tat. Sie hatte soeben ihre wichtigste Schlacht gewonnen.
»Danke, Mildred.« Er hob sein Glas und trank ihr zu. »Ich wünschte, wir hätten all dies schon hinter uns.«
Auf einmal sehnte Mildred sich nach Daphne. Zwar hätte sie mit der Schwester nicht darüber reden wollen, aber von diesem Abend wollte sie ihr erzählen, wollte das Glück mit ihr teilen, denn solange es nicht ihnen beiden gehörte, war es nur die Hälfte wert. »Wann kommt meine Schwester aus dem Spital?«, fragte sie. »Es geht ihr doch besser? Dass sie blutarm ist, braucht Sie nicht zu kümmern, das ist sie immer gewesen.«
»Ihre Schwester?« Erstaunt hob er die Brauen, als hätte er vergessen, dass sie eine Schwester hatte. »Aber sie ist doch längst nicht mehr im Spital, schon seit dem Jahreswechsel nicht.«
»Nicht mehr im Spital?«
»Mildred«, sagte er und ergriff ihre Hand, »im Spital warten auf jedes Bett fünf Patienten. Wer auf dem Weg der Besserung ist, wird entlassen. Daphne erhält die beste Pflege, die sich denken lässt, und so wird es ihr Leben lang bleiben. Ich würde alles tun, um sie zu schützen, das müssen Sie mir glauben.«
Mildreds Gedanken überschlugen sich. Daphne war überhaupt nicht mehr krank, sie war gesund und erholte sich. Nicht bei Mildred, die sie von klein auf umsorgt hatte, sondern bei Fremden. Hyperion wusste, wo sie war, es gab etwas, das Hyperion und Daphne wussten, aber Mildred nicht. Vor ihren Augen verschwamm sein Gesicht. Dass sie ihm mit keinem Wort verraten durfte, welcher Sturm in ihr tobte, war alles, was sie begriff.
Kapitel 8
Southsea bei Portsmouth, Frühling 1861
W enn während des Tages ein Billett oder eine Einladung gebracht wurde, stellte Bernice sie im Salon auf den Kaminsims. So war es im Haus ihrer Eltern gehandhabt worden, und so handhabte Bernice es in ihrem Haus, darüber gab es mit ihr kein Palavern. Von Hector erwartete sie, dass er sich zum Sims begab und die Nachrichten durchsah. Nie wäre sie ihm entgegengelaufen, um ihn von etwas in Kenntnis zu setzen, und es kam vor, dass sie in großer Toilette in der Halle wartete, während er im Hausmantel ahnungslos Zeitung las. Erkundigte er sich dann, wohin sie wolle, so erfuhr er, dass sie zum Dinner im Haus seines Schwagers, des Port Admirals, geladen waren. »Die Karte lag tagelang auf dem Sims«, warf sie ihm hin und rauschte aus dem Saal.
Zuweilen hatte Hector Lust, Bernice wie einem gewöhnlichen Weibsbild den Hintern zu versohlen, dessen Breite nachgerade dazu einlud. Dass derlei nicht in Frage kam und dass sich an Bernices Gewohnheiten nichts ändern würde, war ihm jedoch bewusst. Und da er ihrem Bruder, dem Port Admiral, seine wichtigsten Aufträge verdankte, blätterte er gottergeben die Karten auf dem Kaminsims durch, sobald er nach Hause kam.
Bernice war keine Baronentochter wie Amelia, doch sie entstammte einer alten Offiziersfamilie. Gewiss ging es in ihrem Elternhaus nicht so vornehm zu wie einst bei Amelias Vater, doch dafür war jener arm wie eine Kirchenmaus gewesen und hatte seine Tochter regelrecht verscherbelt. Zwar zischten böse Zungen, auch Bernice habe ihn geheiratet, weil er ihr von ihrem Bruder
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