Die Mondrose
weiter heruntergekommen. Der Gestank hing in dem engen Hof wie eine Wolke, und die verhärmten Frauen, die hier Hühner geschlachtet hatten, säumten in aufgeputzten Lumpen den Gehsteig und boten sich Männern feil. Mit welchem Recht ließ man Menschen so hausen? Er musste etwas unternehmen, zum hundertsten Mal nahm er sich vor, mit Hector zu reden. Sofort, wenn die Sache mit dem Geld aus der Welt ist, sagte er sich.
Da Hyperion nicht einmal wusste, wo sich die Gasanstalt befand, ließ er sich in die Queen’s Road fahren, zum Haus seines Bruders. Mount Olymp – Berg des siegreichen Göttergeschlechts. Den Triumph, den Hector empfunden haben musste, als er seinem Haus diesen Namen gab, hatte er sich verdient. Ein Hausmädchen in makelloser Uniform öffnete Hyperion die Tür. Ihr Herr sei nicht daheim, erklärte sie, wohl aber die Herrin, die bereits aus einer der Türen rauschte. »Der Herr Schwager. Wie nett! Auch wenn ich kaum zu hoffen wage, dein Besuch sei familiärer Natur.«
»Es tut mir leid, Bernice.«
»Dir tut immer alles leid, Hyperion.« Ihre Breite füllte den Gang. Dennoch wirkte sie nicht unbeholfen wie andere beleibte Menschen, sondern eher wie ein Schlachtschiff.
»Ich weiß, wir hätten euch längst einmal einladen sollen …«
»Jeder, wie er es für richtig hält«, beschied sie ihn. »Ich habe Noras Französischlehrer da, ich kann mich nicht lange aufhalten. Und da du ja wohl Hector zu sprechen wünschst, rate ich dir, in seinem Büro auf ihn zu warten. Zu deiner Unterhaltung triffst du dort zumindest den alten Nettlewood an.«
Hyperion hatte den Buchhalter seines Vaters immer gemocht. Zunächst mit ihm über sein Problem zu sprechen würde die Aufgabe erleichtern. Durch den Garten ging er hinüber in den Anbau und bestaunte dabei den sichtbaren Wohlstand. Zwar fehlte der sichere Geschmack, der Mount Othrys einzigartig machte, doch jedes Stück wirkte teuer erworben und mit Sorgfalt arrangiert. Im Vorzimmer, in dem Nettlewood sich über seine Arbeit beugte, wimmelte es von Geräten, von denen Hyperion nicht einmal die Funktion kannte. Der Buchhalter blickte auf, und Hyperion glaubte auf seinem Gesicht einen Anflug von Freude zu erkennen.
»Dr. Weaver.« Der Mann stand auf und reichte ihm die Hand.
Hyperion schlug ein. »Es kommt mir noch immer falsch vor, dass Sie nicht mehr Master Hyperion zu mir sagen.«
»Das wäre wohl kaum angemessen.«
»Nein, wohl nicht.«
»Ich hoffe, daheim steht alles zum Besten?«
»O ja, vielen Dank. Sie müssen uns besuchen kommen.«
Nettlewood schob sich die Brille auf den Nasensattel. »Sind Sie mit Mr Weaver verabredet?«
»Nun, verabredet eigentlich nicht.«
»Dann dürfte es wenig Sinn haben, auf ihn zu warten. Er ist oft bis in die Nacht unterwegs. Vielleicht nehmen Sie also besser mit mir vorlieb?«
Hyperion wollte ausweichen, ein belangloses Anliegen vortragen, doch dann fiel ihm Daphnes verweintes Gesicht ein. »Die Sache ist leider etwas heikel«, begann er zögernd.
»Warum setzen Sie sich nicht?« Nettlewood wies auf den Sessel seinem Schreibtisch gegenüber.
Dankbar nahm Hyperion Platz. »Es geht um Geld«, sagte er, die Hände umeinander krampfend.
»Das habe ich befürchtet.«
»Wie meinen Sie das?«
Der Buchhalter räusperte sich. »Mit Verlaub, darauf möchte ich nicht antworten. Darf ich Sie stattdessen bitten, ein wenig genauer zu werden?«
»Ich bin wegen meines Anteils aus dem Holzhandel hier«, erwiderte Hyperion schnell. »Ich möchte niemandem einen Vorwurf machen, mein Bruder hat zweifellos gute Gründe, nur befinde ich mich leider selbst in einem kurzfristigen Engpass.«
»Das bedaure ich.«
Hyperion sah, wie Nettlewood die Schultern nach vorn zog. Die Woge der Scham nahm ihm beinahe den Atem. »Ich musste leider feststellen, dass mein Anteil während der letzten Quartale nicht vollständig ausgezahlt wurde«, murmelte er. »Auch gab es nach meiner Heirat nicht den festgelegten Aufschlag. Im Gegenteil, die Summen werden kleiner.«
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, zog Nettlewood eine Schublade auf, entnahm ihr einen Ordner und schlug ihn auf. Was er suchte, fand er im Handumdrehen. »Für Ihre Abrechnung bin ich zuständig«, sagte er und drehte Hyperion den Ordner hin. »Ich gebe zu, es schmerzt mich, dass Sie annehmen, ich käme dieser Aufgabe nicht gewissenhaft nach.«
»Um Gottes willen, nein! Ich nahm nur an, mein Bruder …«
Nettlewood ließ ihn nicht ausreden. »Ihr Bruder hat für derlei gar keine Zeit.
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