Die Mondrose
Leute zu vergeuden? Rede dich nicht heraus, fuhr er sich an. Wenn du für deine Frau nicht sorgen willst, hättest du nicht heiraten dürfen. Vielleicht konnte er ja später, sobald er aus dem Gröbsten heraus war, ans Spital zurückkehren, jetzt aber hieß es, sich Patienten zu verschaffen. Wie fing man das an? Früher hatte er ständig Anfragen bekommen, in letzter Zeit jedoch war es still geworden.
Gewiss war es das Klügste, die ihm verbliebenen Patienten zu bitten, ihn in ihren Kreisen zu empfehlen. Gleich morgen konnte er bei Cynthia Lewis, einer Großtante des Port Admirals, die sich einbildete, an einer Geschwulstkrankheit zu leiden, den Anfang machen. Vor dem Spital blieb er stehen, um im Licht der Straßenlaterne das Gebäude zu betrachten. Irgendwann ging er hinüber. Vernon würde bereits zur Abendschicht zugegen sein.
Im Empfang herrschte der übliche Aufruhr, Kinder brüllten, Männer fluchten, Verwundete stöhnten vor Schmerzen. Zwei Studenten hatten den Dienst übernommen und wurden des Ansturms nicht Herr. Schwester Gladys, die junge Nightingale-Schülerin, die er am Morgen beim Antritt ihrer Schicht gesehen hatte, steuerte geradewegs auf ihn zu. »Dr. Weaver, dem gnädigen Vater sei Dank.«
Ich kann nicht bleiben, wollte er sagen, aber heraus kam lediglich: »Ich muss Dr. Vernon sprechen.«
»Dr. Vernon hat eben einen Boten geschickt«, erwiderte Gladys. »Er kann zur Nachtschicht nicht kommen. Es erging ihm heute früh nicht wohl, und leider fühlt er sich noch immer nicht besser.«
Sag es jetzt. Sag, dass du nach Hause gehen musst, dass du so bald nicht wiederkommst.
Statt seiner sprach Schwester Gladys: »Gewiss wollen Sie sich die Ausländerin ansehen, die Sie gestern Nacht entbunden haben.«
Hyperions Herzschlag beschleunigte sich. »Wie geht es ihr?«
»Oh, den Tag über war alles bestens. Dr. Lawleigh hat sie untersucht und war zufrieden. Heute Mittag hat sie Hafergrütze essen können und das Kindchen nähren. Nur fing sie leider vor einer Stunde an über Schmerzen zu klagen, und jetzt tritt Hitze auf und an der Wunde eine Rötung …«
Sie brauchte nicht weiterzusprechen. Im Trakt der Frauen wies man Hyperion ohne Fragen den Weg in den letzten Saal. Den Geruch, der ihm entgegenschlug, würde er meilenweit gegen den Wind erkennen. Er hatte verloren. Das kleine Mädchen, wenn es überlebte, würde ohne Mutter aufwachsen.
Die Frau lag auf einem Bett, das mit Sicherheit nicht bezogen worden war, seit der letzte Kranke darin gelegen hatte. Auch Dr. Lawleigh hatte zweifellos sein Instrument nicht gesäubert, ehe er es von einer Wunde in die nächste senkte. Sooft Hyperion darum bat, erntete er mitleidige Blicke und gezuckte Schultern. Ohnehin reichte die Zeit nie zum Nötigsten, und woher sollte man genug heißes Wasser nehmen, um ständig Bettwäsche auszuwaschen? Reinlichkeit galt als Luxus, den die unteren Klassen nicht einmal zu schätzen wussten. Das Gesicht der Frau war krebsrot und glühte, das goldbraune Haar klebte ihr am Schädel. Flatternd ging ihr Atem.
Mit fliegenden Fingern ertastete er den zu schnellen Herzschlag, dann die Venen, in denen das Blut spürbar schwächer pulsierte. Hatte Lawleigh Studenten bei sich gehabt, als er die Frau untersuchte, junge Leute, die zuvor im Anatomiesaal Tote seziert hatten? Der Verband war durchnässt und stank. Hyperion bat Schwester Gladys, einen Helfer mit Kompressen, Spiritus und dem Extrakt von Rosskastanien zu schicken. Im selben Moment läutete die Glocke, die die Patienten zur abendlichen Ausgabe von Brot und Bier rief. In allen Betten regte sich Leben. »Soll ich ihr eine Ration holen?«, fragte die Schwester und wies auf die Wöchnerin.
Traurig schüttelte Hyperion den Kopf. »Bringen Sie mir nur einen Krug frisches Wasser.«
»Und das Kind? Soll ich das zum Stillen bringen?«
Noch einmal schüttelte er den Kopf. Die junge Frau würde ihre Tochter nie wieder stillen. »Mischen Sie einen Teil Milch mit einem Teil Wasser und geben Sie es dem Kind aus einer Steingutflasche. Wenn wir Glück haben, trinkt es.«
Der Verbandshelfer kam, und Hyperion versorgte die Wunde mit in Alkohol getränkten Pflastern. Als er sie auflegte, stöhnte die Frau, sonst kam von ihr nichts als röchelnder Atem. Er breitete ihr eine Kompresse mit Rosskastanie, die das Fieber senken sollte, über die schweißnasse Stirn. Das Mittel würde sie nicht retten, aber es mochte ihr die Qual erleichtern. »Weiß man inzwischen, wer sie ist?«, fragte
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