Die Moralisten
Angelegenheit schien allmählich eines natürlichen Todes zu sterben. Jeden Tag rückten die Nachrichten über mich weiter auf die Innenseiten der Zeitungen, verdrängt durch neue und sensationellere Berichte. Trotzdem konnte ich das Gefühl drohenden Unheils nicht loswerden. Ich wandte mich zum Gehen.
»Mr. Kane?« Die fragende Stimme klang weich und jung.
Ich drehte mich um. Neben mir stand ein junges Mädchen. Ihr Aussehen paßte zu ihrer Stimme. Die Jugend strahlte ihr aus dem Gesicht, aber in ihren Augen lag ein Ausdruck, als sei sie von ihrer eigenen Kühnheit überwältigt.
»Ja?« sagte ich sanft.
Auf ihrem Gesicht zeigte sich Erleichterung. Ich hatte den Eindruck, daß sie davongelaufen wäre, wenn ich in kühlem Ton zu ihr gesprochen hätte. »Hätten Sie Lust zu tanzen?« fragte sie mit gesenktem Kopf.
Ich lächelte ihr beruhigend zu. »Es wäre mir ein Vergnügen.«
Sie blickte zu mir auf, und ihre Züge schienen sich zu erhellen. Ich legte den Arm um sie, und wir begannen zu tanzen. Die anderen starrten uns an. Laß sie nur starren, dachte ich. Ich habe das Recht, hier zu tanzen, wenn ich will. Es ist meine Party. Es war das erste Mal, daß ich auf einer dieser Parties tanzte.
Meine Partnerin tanzte gut - jung und leichtfüßig. Sie schmiegte sich eng in meine Arme, und ich spürte den Druck ihrer jungen Brüste. Sie blickte beim Tanzen zu mir auf; ihre Augen schienen mein Gesicht zu studieren. Als ich sie ansah, schloß sie ihre Augen halb und wandte den Kopf ein wenig zur Seite. »Sie sind ein sehr guter Tänzer, Mr. Kane«, flüsterte sie schüchtern.
Ich lächelte sie an. »Ich nicht, aber Sie. Mit einer anderen Partnerin würde es mir nicht halb so gut gelingen, Miss...?«
Sie errötete ein wenig. »Muriel - Muriel Bonham«, sagte sie. Und dann, als ob die Worte aus ihr herausplatzten: »Hoffentlich halten Sie mich nicht für unverschämt - ich meine, weil ich Sie zum Tanzen aufgefordert habe.«
Ich schüttelte leicht den Kopf. »Nein. Eigentlich bin ich sogar ganz froh darüber.«
Diese Bemerkung schien ihr etwas Selbstvertrauen zu geben. »Ich dachte nur, Sie sahen so einsam aus, als Sie da allein standen und mit niemandem redeten.«
»Was hat Sie zu dieser Annahme veranlaßt, Muriel?« fragte ich beiläufig. Es mußte schlimm um mich bestellt sein, wenn ein so junges Ding das erkennen konnte.
»Die Art, wie Sie dort standen und den Tänzern zuschauten -es war, als ob Sie auch gern getanzt hätten.« Sie lächelte jetzt.
»Ich verstehe«, sagte ich. Die Musik hörte auf, und wir standen uns gegenüber und klatschten. Ihr Gesicht strahlte.
Sie erschien mir eigentlich zu jung, um gerade in einem solchen Unternehmen wie dem meinen zu arbeiten. Ich nahm mir vor, durch Miss Walsh feststellen zu lassen, in welcher Abteilung sie arbeitete, und ihr dann zu kündigen. Es war besser für sie, wenn sie nichts mit uns zu tun hatte.
Die Musik begann von neuem. Ich blickte sie fragend an; sie nickte, und wir tanzten noch einen Tanz. Als die Musik aufhörte, dankte ich ihr und ging in mein Büro zurück. Ich mixte mir einen Drink. Das Mädchen hatte recht. Ich war allein. Aber man muß selbst entscheiden, was man will. Ich hatte mich schon vor langer Zeit entschieden.
Mein Blick fiel auf das Telefon. Ei wäre ein leichtes, Ruth anzurufen und ihr ein schönes Weihnachtsfest zu wünschen. Es war ein guter Vorwand. Seit unserer letzten Unterredung ließ ich ihr jeden Tag durch ein Blumengeschäft eine Orchidee schicken. Sie hatte den Empfang nie bestätigt, aber sie hatte die Blumen auch nicht zurückgehen lassen. Es wäre schön, mit ihr ein paar Worte zu wechseln. Ich streckte meine Hand nach dem Hörer aus.
Plötzlich hielt ich inne. Ich merkte, daß die Tür sich langsam öffnete. Während ich die Tür im Auge behielt, öffnete ich die linke Schreibtischschublade und berührte mit der Hand das kalte Metall des Revolvers, den ich dort aufbewahrte.
Ein Mädchenkopf erschien in der halbgeöffneten Tür. Das mattgoldene Haar schimmerte in der gedämpften Beleuchtung des Raumes. Als das Mädchen mich am Schreibtisch sitzen sah,
öffnete sie die Tür weit und kam ins Zimmer.
»Waren Sie die ganze Zeit über hier, Mr. Kane?« fragte Muriel.
Ich schob die Schreibtischschublade zu. »Ja«, sagte ich. »Warum sind Sie gekommen?«
Sie stand jetzt vor meinem Tisch. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich mußte einfach kommen.« In ihren Augen lag ein Ausdruck, als verstünde sie sich selber
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