Die Moralisten
hatte.
»Da liegt sie«, sagte die Schwester und schlug die Vorhänge auseinander.
»Können wir mit ihr sprechen?« fragte Mike die Schwester. »Sie ist sehr schwach«, antwortete die Schwester. »Sie müssen vorsichtig sein.«
Sie traten hinter die Vorhänge und blieben vor dem Bett stehen. Einen Augenblick betrachteten sie beide schweigend das junge Mädchen, das da bewegungslos vor ihnen lag.
Sie schien zu schlafen. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Gesicht war weiß; es war eine fahle, bläulichweiße Farbe, als wäre kein Blut mehr unter der Haut. Ihr Mund stand offen, und ihre Lippen waren ein wenig dunkler als die Wangen.
Mike sah Millersen an, der nickte. »Miß Reese«, sagte er leise zu dem Mädchen.
Sie rührte sich nicht. Wieder rief er sie beim Namen. Dieses Mal bewegte sie sich ein wenig. Langsam schlug sie die Augen auf. Sie waren so von Schmerz erfüllt, daß Mike ihre Farbe nicht erkannte. Ihre Lippen zuckten, aber kein Laut kam hervor.
Mike trat dichter ans Bett heran.
»Hören Sie mich, Miß Reese?«
Das Mädchen nickte schwach.
»Mein Name ist Mike Keyes, und das ist Captain Millersen. Wir sind von der Staatsanwaltschaft.«
Furcht erwachte in den Augen des Mädchens. Mike redete sofort weiter, um sie zu beschwichtigen. »Sie haben nichts zu befürchten,
Miß Reese. Gegen Sie liegt nichts vor. Wir haben Ihnen nur einige der üblichen Fragen zu stellen, die es uns ermöglichen sollen, Ihnen zu helfen.«
Ganz allmählich schwand die Angst aus ihren Augen. Mike wartete etwas. Wie Hohn klangen ihm seine Worte in den Ohren. Nichts zu befürchten. Selbstverständlich hatte sie nichts zu befürchten. Sie lag ja im Sterben.
Er lächelte sie beruhigend an. »Haben Sie Verwandte, die wir benachrichtigen könnten?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Hier in der Stadt oder sonstwo?«
»Nein!« Die Stimme war nur ein leises Flüstern.
»Wo wohnen Sie, Miß Reese?«
»Im Hotel Allingham«, antwortete sie.
Mike nickte. Es war eines der weniger teuren Hotels für Frauen auf der West Side. »Haben Sie eine feste Stellung, Miß Reese?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Was tun Sie?«
Die Stimme des Mädchens war schwach. »Fotomodell.«
Er wechselte einen Blick mit Millersen. Die eine Hälfte der arbeitslosen Mädchen in New York bestand aus Fotomodellen, die andere aus Schauspielerinnen. »Ganz frei oder Agentur?« fragte er. »Agentur«, antwortete sie.
»Welche Agentur?«
»Park Avenue Models«, erwiderte sie. Zum erstenmal, seit Mike mit ihr gesprochen hatte, veränderte sich ihr Ausdruck. »Teilen ... teilen Sie es Maryann mit ...«
Mike hatte das Gefühl, als zeige sich auf dem Gesicht des Mädchens ein Schimmer von Hoffnung. »Das werden wir«, versprach er. »Maryann - was für eine Maryann, wo ist sie zu finden?«
Das Mädchen schien seine ganze Kraft zusammenzunehmen, um noch ein paar Worte hervorzubringen. »Maryann in ... in der Agentur. Sie weiß, was zu tun ist. Sie ist ...« Ihre Stimme erstarb, und ihr Kopf sank zur Seite.
Schnell trat die Schwester an das Kopfende des Bettes und fühlte den Puls. »Sie schläft«, erklärte sie. »Sie müssen Ihr Verhör später fortsetzen.«
Mike wandte sich an Millersen. Dessen Gesicht war weiß. Fast ebenso weiß wie das des Mädchens. Sofort änderte Mike seine Meinung über diesen Mann. Immer hatte er gehört, Millersen könne nichts beeindrucken.
»Was meinen Sie, Frank?«
»Wir werden nichts finden«, antwortete Millersen.
Mike war überrascht. »Wie kommen Sie darauf?«
Millersen lächelte traurig. »Ich habe zu viele dieser Art gesehen. Es führt nie zu etwas.«
»Aber das Mädchen liegt im Sterben!« rief Mike. »Wir müssen doch etwas unternehmen, um festzustellen, wer es getan hat. Dieser Pfuscher, der hier seine Hände im Spiel hatte, kann doch jederzeit ein anderes Opfer finden ...«
Millersen hob beschwichtigend eine Hand. »Nur mit der Ruhe, Mike. Wir werden in die Sache hineinleuchten, aber wir werden nichts finden. Es sei denn, das Mädchen sagt uns etwas.«
»Ich werde die Agentur anrufen. Vielleicht können uns die Leute dort einen Anhaltspunkt geben.« Mike ging den Gang zwischen den Betten entlang.
Millersen packte ihn am Arm. »Ich werde anrufen, Mike«, sagte er rasch. »Warten Sie hier und sprechen Sie mit ihr, wenn sie wieder zu sich kommt. Das Mädchen kennt Sie schon.«
Mike nickte. »Gute Idee.« Er blickte Millersen nach, als dieser den Krankensaal verließ, und wandte sich wieder den
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