Die Moralisten
er. »Ich bin nur Frauen nicht gewöhnt.«
Sie lachte auf, als sie begann, ihr Make-up aufzulegen. »Sie sind sehr nett, Hank. Ich mag Sie.«
»Danke.«
Sie wandte sich ihm zu. »Ich meine es wirklich. Es gibt wenige Männer, die ich wirklich mag. Die meisten sind nichts weiter als Tiere.«
Sein Gesicht wurde plötzlich ernst. Sie mußte es ja wissen. »Ich hoffe, wir können gute Freunde werden«, sagte er.
Ihre Augen waren voll tiefer Erfahrung. »Ich hoffe es«, erwiderte sie aufrichtig, »aber ich bezweifle es.«
Er war überrascht. »Wieso?«
Sie erhob sich und drehte sich zu ihm herum. Eine unerklärliche Veränderung war mit ihr vorgegangen. Er spürte den Pulsschlag an seinen Schläfen. Im sanften Licht dieses Zimmers schien sie sich plötzlich in eine Statue der Sinnenlust verwandelt zu haben: Ihre Brüste waren üppig und doch fest, die Rundung ihres Leibes sanft und herausfordernd, ihre Beine glichen langstieligen Blumen. Plötzlich wurde ihm der Mund trocken. Er hob das Glas an die Lippen, trank aber nicht. Er wollte nur die kühle Feuchtigkeit an den Lippen spüren. »Sie sind schön«, flüsterte er.
»Bin ich das?« fragte sie. »Eigentlich nicht. Meine Beine sind zu lang, meine Brüste zu voll, meine Schultern zu breit, meine Augen zu groß, mein Kinn zu kantig, meine Backenknochen zu hoch angesetzt und mein Mund zu kräftig. Nichts stimmt mit dem heutigen Typ überein. Und trotzdem behaupten Sie, ich sei schön!«
»Das sind Sie auch.«
Ihre Augen blickten durch ihn hindurch. »Sie meinen etwas anderes, nicht die Schönheit. Stimmt’s?«
»Was sonst wäre der Maßstab der Schönheit?« fragte er.
Das Lächeln verschwand von ihren Lippen, »Das meine ich eben. Deshalb zweifle ich daran, daß wir Freunde sein können. Es läuft immer wieder darauf hinaus.«
Er lächelte sie an. »Ich kenne Sie«, entgegnete er leise. »Sie wollen es gar nicht anders haben. Es ist Ihre einzige Waffe. Es ist Ihre einzige Möglichkeit, es mit Männern aufnehmen zu können.«
Sie starrte ihn einen Augenblick an und setzte sich dann wieder an ihren Toilettentisch. Sie griff zu einer Puderdose und hielt sie ihm hin.
»Pudern Sie mir den Rücken«, bat sie. »Vielleicht sind Sie anders als alle die anderen. Sie sind klüger.«
Er sah einen Augenblick die Puderdose an und wandte sich dann ab. »Wenn wir Freunde sein wollen«, erklärte er, »pudern Sie sich den Rücken selber. Ich bin auch nur ein Mensch.«
Als sie aus dem Schlafzimmer trat, erhob er sich und stieß einen Pfiff zwischen den Zähnen hervor. Sie trug ein einfach geschnittenes schulterfreies Kleid aus Goldlame, das sich ihrem Körper eng anschmiegte. Glatte Seidenstrümpfe und Goldschuhe. An den Ohren hatte sie kleine herzförmige goldene Ohrringe und um den Hals eine Kette aus Goldgeflecht mit einem einzelnen großen, topasähnlichen Stein. Ihr Haar war hellblond und hob sich schimmernd gegen das dunklere Gold ihres Kleides ab. Sie lächelte. »Gefällt es Ihnen?«
Er nickte. »Fabelhaft!«
Sie holte seinen Mantel aus dem Schrank und warf sich eine helle Nerzstola um die Schultern.
»Bereit?« fragte er lächelnd. Ross würden die Augen heraustreten. »Immer bereit«, antwortete sie.
Als sie zur Tür gingen, klingelte das Telefon. Erblieb stehen und sah sie an. »Wollen Sie denn nicht an den Apparat gehen?«
Sie sah ihn an. »Mein Kundendienst übernimmt das. Wahrscheinlich ein Kunde, der nicht weiß, daß ich mir einen freien Abend mache.« Sie setzten sich in ein Taxi. Er nannte dem Fahrer die Adresse. Sie nahm seinen Arm, und der leichte Duft ihres Parfüms umwehte ihn. »Was wünschen Sie sich eigentlich vom Leben, Maryann?« fragte er. Die Dunkelheit verbarg ihm ihre Augen, als sie antwortete: »Alle stellen mir die gleiche Frage. Erwarten Sie die übliche Antwort oder die Wahrheit?«
»Die Wahrheit, wenn wir Freunde sein wollen.«
»Das gleiche wie alle anderen auch«, erwiderte sie. »Liebe. Ein Heim. Familie. Sicherheit. Ehe. Ich bin nicht anders als andere Frauen auch.«
Er zögerte. »Aber .« begann er.
Sie unterbrach ihn. »Ich bin eine Hure, wollten Sie sagen.«
Sie hatte seine Gedanken genau erraten. Verlegen räusperte er sich. »Das macht mich noch lange nicht zu einem Staatsbürger zweiter Klasse«, fuhr sie gelassen fort. »Ich empfinde genauso wie jede andere Frau. Ich blute ebensosehr, wenn ich mich schneide, und ich weine genauso, wenn mir etwas weh tut. Ich arbeite in meinem Beruf ebenso angestrengt wie andere in
Weitere Kostenlose Bücher