Die Morgengabe
Bauunternehmer aufgehalten, beschloß Quin, gar nicht erst nach
London zurückzukehren, sondern direkt nach Bowmont weiterzufahren.
Der Brief seiner Tante blieb daher
ungeöffnet in seiner Wohnung in Chelsea liegen.
Genau an dem Tag, an dem Quin nach Yorkshire
aufbrach, erhielt Ruth die so sehnsüchtig erwartete Nachricht, daß Heini sein
Visum hatte. Er würde am 2. November in London eintreffen, und zwar mit dem
Flugzeug!
«Da kann ihn keiner mehr
herausholen», sagte Ruth mit leuchtenden Augen.
«Ich kann es gar nicht glauben, daß
ich ihn wirklich sehen werde», meinte Pilly.
«Aber du wirst ihn sehen – und hören
wirst du ihn auch.»
Denn jetzt war natürlich nichts
wichtiger, als das Klavier herbeizuschaffen. Ruth fehlten nur noch fünf
Shilling zu der erforderlichen Summe, und als hätten die Götter gewußt, daß es
keine Zeit mehr zu verlieren gab, sandten sie noch an diesem selben Abend einen
jungen Mann namens Martin Hoyle ins Willow.
Hoyle lebte mit seiner Mutter in
einer Villa in Hampstead auf dem Hügel und war finanziell unabhängig, aber er
hatte den Ehrgeiz, Journalist werden zu wollen, und bereits eine Reihe von
Artikeln an Zeitungen und Zeitschriften geschickt, die nicht alle abgelehnt
worden waren. Nun hatte er einen Einfall gehabt, von dem er sicher war, daß er
seiner journalistischen Laufbahn förderlich sein werde. Er würde sich von den
Flüchtlingen, die sich Tag für Tag im Willow einfanden, ihre
Erinnerungen an Wien erzählen lassen; anrührende Episoden aus der Kaiserstadt
mit all ihrem Glanz und Pomp, oder solche jüngeren Datums aus dem Wien
Wittgensteins und Freuds. Was ihm vorschwebte, war, dem reichen Schatz an
Erinnerungen, den sie in ihrem Kopf mit sich trugen, den mageren Inhalt der
Koffer, die sie hatten mitnehmen dürfen, entgegenzusetzen. Er war überzeugt, so
eine Serie würde sich an den News Chronicle oder vielleicht sogar an die Times verkaufen lassen.
Er war früh dran. Zwar saßen Ziller,
Dr. Levy und von Hofmann alle in Wien geboren und aufgewachsen – am Fenster
beieinander und
unterhielten sich, aber es war Mrs. Weiss, einsam und allein an einem Tisch
neben dem Garderobenständer, die ihn ansprach. «Darf ich Sie zu einem Stück
Kuchen einladen?» fragte sie.
Zu ihrer Überraschung nickte der
junge Mann.
«Das ist nett, danke», sagte er.
«Aber vielleicht darf ich Sie einladen.»
Mrs. Weiss hatte dagegen nichts
einzuwenden, Hauptsache, er setzte sich zu ihr und ließ sie reden. Zwei Stück
Gugelhupf wurden gebracht, und Martin Hoyle stellte sich vor.
«Würde es Ihnen etwas ausmachen,
wenn wir uns ein wenig über Ihr Leben unterhielten? Über Ihre Erinnerungen?»
fragte Hoyle. «Wissen Sie, ich war früher einmal in Wien und war begeistert von
der Stadt.»
Mrs. Weiss senkte die Lider. Sie
selbst war nie in Wien gewesen, es war weit weg von Ostpreußen und ihrer
Heimatstadt Prez, aber wenn sie das zugab, würde Mr. Hoyle gehen und mit den
Männern drüben am Fenster sprechen; wenn sie
jedoch ihre Karten richtig ausspielte, konnte sie ihn vielleicht an ihrem Tisch
festhalten, und wenn dann ihre Schwiegertochter kam, um sie abzuholen, würde
sie sie im Gespräch mit einem gutaussehenden jungen Mann sehen.
«Was für Erinnerungen interessieren
Sie denn?» fragte sie.
«Nun, haben Sie zum Beispiel je den
Kaiser gesehen? Wie er mit der Kutsche aus der Hofburg kam vielleicht?»
Es folgte eine etwas frustrierende
Viertelstunde. Anstatt Berichte über den Kaiser bekam Hoyle Mrs. Weiss'
Ansichten über Backenbärte aufgetischt; anstatt über große Premieren an der
Oper hörte er von den Kehlkopfgeschichten, die ihren Neffen, Zolly Federmann,
daran gehindert hatten, zur Bühne zu gehen.
«Aber was ist mit dem Prater?»
fragte Hoyle schon ganz verzweifelt. «Sicherlich haben Sie doch in der
berühmten Kastanienallee Ihren Reifen geschlagen?»
Das hatte Mrs. Weiss nicht getan,
aber sie erzählte ihm ausführlich von einem Gummikrokodil an einer Schnur, das
sie heiß geliebt hatte, bis ein paar Straßenjungen es durchlöchert hatten.
«Und das Riesenrad?» Hoyle wischte
sich die Stirn. «Sie sind doch bestimmt einmal mit dem Riesenrad gefahren? Oder
mit einem Boot auf der Donau?»
An dieser Stelle kam Ruth, um ihren
Abenddienst aufzunehmen. Freundlich lächelnd begrüßte sie die alte Dame.
Niemals hätte Mrs. Weiss den jungen Journalisten an die Männer abgetreten, aber
mit Ruth war das etwas anderes. Ruth war ihre Freundin. Sie wurde
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