Die Mütze
hohen Ideale willen eigenhändig einem Menschen die Zähne ausgeschlagen hatte, oder eine andere, in der mit ebensolcher Intention ihm selbst die Zähne ausgeschlagen wurden - diese Details, weit in die Hinterhöfe des Bewußtseins abgedrängt, lösten sich in den verblassenden Farben eines allgemeinen Hintergrundes auf. Es ging nicht darum, wer wem was ausgeschlagen hatte, sondern nur darum, daß er bei sämtlichen Wendungen des Schicksals niemals, nicht ein einziges Mal, nicht einen Augenblick lang an der Partei, den Organen und ebensowenig an der Vertretbarkeit »unserer gemeinsamen Sache« gezweifelt hatte. Und jetzt, von Schlaflosigkeit gequält, ließ er nachts sein Leben an sich vorüberziehen, alle Leiden, alle Erniedrigungen, das Auf und Ab auf der Dienstleiter und dachte mit Tränen in den Augen daran, daß er niemals, niemals...
Die Partei wußte seine Ergebenheit zu schätzen, die Fürsorge der Organe ließ ebenfalls nichts zu wünschen übrig, man hatte ihm einen Arbeitsplatz bei den Schriftstellern zugewiesen, und angesichts des komplizierten Wirkungsfeldes, das mit seinen früheren Erfahrungen nichts gemein hatte, betrachtete er seine neue Position als einen Stützpunkt im Rücken des Feindes.
Er war sehr groß, ziemlich hager, hatte schlechte Augen, ein Pferdegebiß und lächelte wie der französische Filmschauspieler Fernandel. Das Lächeln wich nicht aus seinem Gesicht, denn seine falschen Zähne, die die Organe auf Staatskosten hatten anfertigen lassen, waren ein bißchen länger ausgefallen als nötig. Sein rötlich-blondes Haar war nur leicht angegraut und schon ziemlich schütter, wenn sich auch noch keine kahlen Stellen zeigten.
Ausgeschlossen von der operativen Arbeit lebte er auch hier seiner Berufung. Hier ging es um das Aufsetzen von Schriftstücken, die auf die gewünschte Weise abgefaßt werden mußten. Eigentlich sagte er in diesen Papieren niemals die Unwahrheit, aber er entstellte die Wahrheit bis zur Unkenntlichkeit. Es fiel ihm leicht, jede beliebige Meinung oder Handlung, jede seelische Regung als einen Versuch darzustellen, die Fundamente unserer Gesellschaft zu untergraben, derart, daß diese Auslegung einem Gerichtsurteil gleichkam. Dieselben Tatsachen konnte er gegebenenfalls in eine Begründung verwandeln, wenn es um eine Ordensverleihung oder die Aufnahme in eine Wohnungskooperative ging. Die Schriftsteller schätzten ihn, weil er, als Aktenvirtuose, der er war, keine schriftstellerischen Ambitionen hatte, was zweifellos begründet gewesen wäre, denn in dem von ihm gepflegten Genre gab es weit und breit keinen seinesgleichen, ja, er konnte darin fast ein Genie genannt werden.
Als Efim vor der schalldichten Tür saß, konnte er sich nicht vorstellen, daß hinter ihr gewisse Vorkehrungen getroffen wurden, die auf sein Erscheinen abzielten. Dem Safe wurde der dicke Ordner mit dem Buchstaben »R« und diesem der dünne Hefter mit der Nummer 14/6 entnommen. Dieser Hefter enthielt nur wenige Blätter, aber keines war mit Gold aufzuwiegen. Selbstverständlich konnte Pjotr Nikolajewitsch jedes Schriftstellerdossier bei der Kader-Abteilung anfordern, aber darauf war er nicht angewiesen. Er verfügte über eigenes Material, kurze sachliche Notizen, die sich teils auf die allgemein bekannten Tatsachen, teils auf Berichte seiner Informanten oder auf seine eigenen Beobachtungen stützten.
Jedesmal wenn Pjotr Nikolajewitsch einen Besucher erwartete, warf er einen Blick in diese Notizen. So tat er auch heute. Und er las:
Rachlin Efim Semenowitsch (Schmulewitsch), 23.7.26 efr. Kukuschkina Sin. Iwan, kosna. Kukuscha so. Timofej asprt. to. Natalija isr. fr. Nr. 2/14 j. kt. 5 med. 11 bü. 2 drb. 1 thst. kl. pub. LPOW. mäßtr. aweini. laneikei. bschd. schl. hrmls. besint. schch. plt. (pss). hfs. (flgkei). kmtarbatnz. zvrlilgr.
Die Dechiffrierung ergibt folgendes:
efr. - Ehefrau
kosna. - Kosename
so. - Sohn
asprt. - Aspirant
to. - Tochter
isr. - Israel
fr. - Freund
Nr. 2 /14 - die Nummer Baranows
j. - Jude
kt. - Kriegsteilnehmer
5 med. 11 bü. dreb. 1 thst. - 5 Medaillen, 11 Bücher, 2 Drehbücher, 1 Theaterstück
kl. pub. - Kleine Publikationen
LPOW. - Literarische Produktion ohne Wert
mäßtr. - mäßiger Trinker
aweini. - an Weibern nicht interessiert
laneikei. - Lasterhafte Neigungen keine
bschd. - bescheiden
vschl. - verschlossen
hrmls. - harmlos
besint. schch. plt. (pss) - besondere Interessen Schach und Politik (passiv)
hfs. (flgkei) - hört feindliche Sender
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