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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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hierhergekommen!« Sie kniff die Augen zusammen und kam auf ihn zu. Tatsächlich streckte sie die Hand aus und half ihm mühelos aufzustehen.
    Sie hob den Gehstock auf und drückte ihn ihm in die linke Hand. »Woher bin ich gekommen?« fragte sie, »Lord Rutherford!« Sie beugte sich nach vorne, ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. »Lord Rutherford, war ich tot?«
    Sie wartete nicht auf die Antwort. Der Schrei brach stockend aus ihr heraus. Er umarmte sie und legte ihr eine Hand auf den Mund.
    »Ramses hat dich hierher gebracht. Ramses! Du hast seinen Namen gerufen. Du hast ihn gesehen.«
    »Ja!« Sie stand still, wehrte sich nicht, hielt lediglich sein Handgelenk fest umklammert. »Ramses war da. Und als ich…
    als ich ihn gerufen habe, ist er vor mir weggelaufen. Wie die Frau ist er vor mir weggelaufen! Mit demselben Ausdruck in den Augen.«
    »Er wollte zu dir zurückkommen. Man hat ihn nicht gelassen.
    Jetzt muß ich zu ihm gehen. Verstehst du? Du mußt hier bleiben. Du mußt hier auf mich warten.« Sie sah an ihm vorbei.
    »Ramses hat die Medizin«, sagte er. »Ich werde sie herbrin-gen.«
    »Wie lange?«
    »Ein paar Stunden«, sagte er. »Es ist früher Nachmittag. Ich werde vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein.«
    Sie stöhnte wieder. Sie preßte den gebogenen Daumen an die Zähne und sah zu Boden. Plötzlich sah sie wie ein Kind aus, wie ein Kind, das versucht, ein schwieriges Rätsel zu lösen.
    »Ramses«, flüsterte sie. Sie war sich nicht sicher, um wen es sich handelte.
    Er tätschelte ihr liebevoll die Schulter, dann ging er, auf den Gehstock gestützt, zu der Leiche des Mädchens. Was, um Himmels willen, sollte er damit machen? Sie hier liegen und verwesen lassen? Wie sollte er sie im Garten begraben, wo er doch kaum gehen konnte? Er machte die Augen zu, sein Lachen klang bitter. Es kam ihm vor wie tausend Jahre, seit er seinen Sohn und Julie und die kultivierte Umgebung des Shepheard Hotels zum letzten Mal gesehen hatte. Es schien tausend Jahre her zu sein, seit er etwas Normales getan oder etwas Normales geliebt hatte oder daran geglaubt oder die Opfer gebracht hatte, die das Normalsein erforderten.
    »Geh und hol die Medizin«, sagte sie zu ihm. Sie trat zwischen ihn und die tote Frau, bückte sich und ergriff Malenkas rechten Ann. Mühelos zog sie die Frau über den Teppich, an dem glucksenden Vogel vorbei, der glücklicherweise still war, und warf die Leiche dann wie eine Puppe in den Innenhof hinaus.
    Sie landete an der gegenüberliegenden Wand mit den Gesicht nach unten.
    Jetzt nicht denken. Geh zu Ramses. Geh!
    »Drei Stunden«, sagte er wieder in zwei Sprachen zu ihr.
    »Verriegle die Tür hinter mir. Siehst du den Riegel?«
    Sie drehte sich um und sah zur Tür. Sie nickte.
    »Gut, Lord Rutherford«, sagte sie auf lateinisch. »Vor Einbruch der Dunkelheit.«

    Sie verriegelte die Tür nicht. Sie stand da, Hände auf das Holz gestützt und lauschte, wie er sich entfernte. Es würde lange dauern, bis er außer Sicht war.
    Und sie mußte von hier fort! Sie mußte feststellen, wo sie war!
    Dies konnte nicht Ägypten sein. Und sie konnte nicht verstehen, warum sie hier war, warum sie solchen Hunger hatte, der nicht gestillt werden konnte, und weshalb sie dieses brennende, unstillbare Verlangen verspürte, in den Armen eines Mannes zu liegen. Sie hätte Lord Rutherford noch zu einem zweiten Akt gezwungen, hätte sie nicht gewollt, daß er seinen Botengang erledigte.
    Aber der Botengang, plötzlich war er ihr nicht mehr klar. Er wollte die Medizin besorgen, aber was war die Medizin! Wie konnte sie mit ihren großen, klaffenden Wunden leben?
    Doch erst vor einem Augenblick war ihr etwas klar geworden, etwas, das mit der toten Frau zu tun hatte, mit dem kreischenden Sklavenmädchen, dem sie das Genick gebrochen hatte.
    Aber am wichtigsten war, von hier wegzugehen, so lange Lord Rutherford nicht da war, der sie wie ein Schulmeister maßre-gelte und ihr sagte, sie solle bleiben.
    Wie durch einen Schleier sah sie die Straßen, die sie zuvor gesehen hatte, voll großer, dröhnender Ungeheuer aus Metall, die stinkenden Rauch ausstießen und einen ohrenbetäubenden Lärm machten. Wer waren die Menschen, die sie gesehen hatte? Frauen, die ebenso gekleidet waren wie sie jetzt.
    Da hatte sie sich gefürchtet, aber ihr ganzer Körper war wund gewesen und hatte geschmerzt. Jetzt war ihr Körper voller Verlangen. Sie durfte sich nicht fürchten. Sie mußte gehen.
    Sie ging ins Schlafzimmer zurück.

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