Die Mumie
Sie schlug die »Schrift«
Harper’s Weekly auf und betrachtete die Zeichnungen schöner Frauen in diesen seltsamen Kleidern, die sie in der Mitte ein-schnürten wie Insekten. Dann betrachtete sie sich selbst im Spiegel in der Schranktür.
Sie brauchte eine Kopfbedeckung und Sandalen. Ja, Sandalen. Rasch durchsuchte sie das Schlafgemach und fand sie in dem Holzschrank – Sandalen mit Goldschmuck und Leder, die ihr paßten. Dazu ein großes, seltsames Ding mit Seidenblumen, wie man es tragen mochte, um sich vor Regen zu schützen.
Als sie es ansah, lachte sie. Dann setzte sie es auf den Kopf und knöpfte die Bänder unter dem Kinn zu. Jetzt sah sie den Frauen auf den Bildern wirklich ähnlich. Abgesehen von den Händen. Was sollte sie bloß mit den Händen machen?
Sie betrachtete den bloßen Knochen des rechten Zeigefingers, der mit einer dünnen Haut bedeckt war. Aber die Haut war wie Seide und fast durchscheinender als das Kleid. Sie sah das Blut unter der Haut, aber es war durchsichtig. Und der Anblick der Knochen reichte aus, sie wieder benommen und verwirrt zu machen.
Eine Erinnerung – jemand stand über ihr. Nein, laß es nicht wieder anfangen. Sie mußte ihre Hand irgendwie bedecken, vielleicht umwickeln. Die linke Hand sah ganz gut aus. Sie drehte sich um und begann den Schrank zu durchsuchen.
Und dann machte sie eine reizende Entdeckung! Da waren zwei kleine Seidenüberzieher für die Hände. Sie waren weiß und Perlen waren darauf genäht! Jeder hatte fünf Finger und war so geschnitten, daß er genau über die Hände paßte. Das war perfekt. Sie zog beide über. Sie verdeckten den freiliegenden Knochen vollkommen.
Ja, die Wunder dieser neuen, modernen Zeit, wie Lord Rutherford sie genannt hatte! Die Zeit der Musikmaschinen und Automobile, diese Dinger, die sie heute morgen überall gesehen hatte und die, gleich großen, dröhnenden Flußpferden vom Nil durch die Straßen torkelten. Wie würde Lord Rutherford das hier nennen, diese Kleidungsstücke für Hände?
Sie vergeudete ihre Zeit. Sie ging zum Toilettentisch, nahm ein paar Münzen, die dort lagen, und steckte sie in eine tiefe, ver-borgene Seitentasche des schweren Rocks.
Als sie die Tür des Hauses öffnete, sah sie die tote Frau, die wie ein Bündel an der Wand des Innenhofs lag. Etwas, was war es, sie mußte es verstehen, aber es wurde einfach nicht deutlich. Etwas… Sie sah wieder die verschwommene Gestalt, die über ihr stand. Sie hörte wieder die heiligen Worte. Die Gestalt sprach eine Sprache, die sie kannte. Dies ist die Sprache deiner Vorväter, du mußt sie lernen. Nein, das war eine andere Zeit gewesen. Sie hatten sich in einem hellen Saal, der mit italienischem Marmor ausgekleidet war, aufgehalten und er hatte sie unterrichtet. Dieses Mal war es dunkel und heiß gewesen, und sie hatte sich nach oben gekämpft wie aus tiefem Wasser, mit schwachen Gliedern, und das Wasser hatte sie zermalmt, ihr Mund war voll Wasser gewesen, so daß sie nicht schreien konnte.
»Dein Herz schlägt wieder, du erwachst zum Leben! Du bist wieder jung und stark, du bist jetzt und auf ewig.«
Nein, nicht wieder weinen! Versuch nicht zu begreifen, zu sehen. Die Gestalt entfernt sich, blaue Augen. Sie hatte diese blauen Augen gekannt. Als ich es getrunken hatte, ist es geschehen. Die Priesterin hat es mir im Spiegel gezeigt… blaue Augen. Aber wessen Stimme war das! Diese Stimme hatte die Gebete in der Dunkelheit gesprochen, das alte, heilige Gebet, um den Mund der Mumie zu öffnen.
Sie hatte seinen Namen gerufen! Und hier, in diesem seltsamen kleinen Haus, hatte auch Lord Rutherford den Namen ausgesprochen. Lord Rutherford ging…
Sei vor Einbruch der Dunkelheit zurück.
Es war vergebens. Sie sah durch den Bogen zu der Leiche.
Sie mußte hinaus in dieses seltsame Land. Und sie durfte nicht vergessen, daß es außerordentlich leicht war, sie zu tö-
ten, ihre spröden Hälse zu brechen.
Sie eilte hinaus ohne die Tür zuzumachen. Die weißgetünchten Häuser auf beiden Seiten kamen ihr vertraut und gut vor.
Sie hatte solche Städte gekannt. Vielleicht war dies Ägypten.
Aber nein, das konnte nicht sein.
Sie hastete weiter und hielt die Bänder fest, damit ihr der seltsame Kopfschmuck nicht vom Kopf flog. Es war so leicht, schnell zu gehen. Und die Sonne tat so gut. Die Sonne. Blitzartig sah sie die Sonne durch ein hohes Fenster in einer Höhle scheinen. Ein Holzladen ging auf. Sie hörte das Quietschen einer Kette.
Dann war sie dahin, die
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