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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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versuchte, alles andere zu verdrängen – das Londoner Leben, das er hinter sich gelassen hatte, und das jetzt versuchte, ihn hier einzuholen.
    Da, die ganze Gestalt sah jetzt voller aus! Und der Ring war jetzt deutlich zu sehen, als hätte der anschwellende Finger die Bandagen völlig durchstoßen. Lawrence bildete sich ein, daß er das sanfte Rosa gesunder Haut sehen konnte.
    »Du bist nicht ganz bei Sinnen«, flüsterte er leise. Und das Geräusch, da war es wieder. Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, aber dadurch wurde ihm der ganze Lärm draußen nur noch deutlicher bewußt. Er ging näher an den Leichnam im Sarg heran. Großer Gott, sah er wirklich Haar unter den Bandagen?
    »Du tust mir so leid, Henry«, flüsterte er plötzlich. »Daß du eine solche Entdeckung nicht schätzen kannst. Diesen alten König, dieses Geheimnis.« Wer sagte, daß er die sterblichen Überreste nicht berühren durfte? Vielleicht einen Zentimeter der brüchigen Bandagen entfernen?
    Er holte das Taschenmesser heraus und hielt es unsicher in der Hand. Vor zwanzig Jahren hätte er das Ding vielleicht aufgeschnitten. Damals hätte er sich nicht mit irgendwelchen übereifrigen Bürokraten herumärgern müssen. Er hätte selbst sehen können, ob unter dem vielen Staub…
    »Ich an deiner Stelle würde das nicht tun, Onkel«, unterbrach Henry. »Die Museumsleute in London werden in die Luft gehen.«
    »Ich habe dir gesagt, du sollst gehen.«
    Er hörte, wie sich Henry eine Tasse Kaffee einschenkte, als hätte er unendlich viel Zeit. Der Duft breitete sich in der engen kleinen Kammer aus.
    Lawrence ging zum Klappstuhl zurück und drückte sich wieder das zusammengelegte Taschentuch auf die Stirn. Vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf. Vielleicht sollte er sich ausruhen.
    »Trink einen Kaffee, Onkel Lawrence«, sagte Henry zu ihm.

    »Ich habe ihn dir eingeschenkt.« Da stand sie, die volle Tasse.
    »Sie warten da draußen auf dich. Du bist erschöpft.«
    »Du elender Narr«, flüsterte Lawrence. »Ich wünschte, du würdest gehen.«
    Henry stellte die Tasse vor ihn hin, direkt neben das Notizbuch. »Vorsicht, diese Rolle ist von unschätzbarem Wert.« Der Kaffee duftete köstlich, auch wenn Henry ihn reichte. Er hob die Tasse, trank einen großen Schluck und machte die Augen zu.
    Was hatte er gerade gesehen, als er die Tasse abstellte? Hatte sich die Mumie im Sonnenschein bewegt? Unmöglich.
    Plötzlich spürte er nur noch das Brennen im Hals. Ihm war, als würde sein Hals zugeschnürt! Er konnte weder atmen noch sprechen.
    Er versuchte aufzustehen, er starrte Henry an, und plötzlich nahm er den Geruch wahr, der von der Tasse ausging, die er noch mit zitternden Händen hielt. Bittermandel. Das Gift. Die Tasse fiel ihm aus den Händen; er hörte sie weit entfernt zer-schellen, als sie auf dem Boden aufschlug.
    »Bei Gott! Du Dreckskerl!« Er fiel, und während er fiel, streckte er die Hände nach seinem Neffen aus, der blaß und grimmig dastand und ihn kalt ansah, als würde diese Katastrophe nicht passieren, als würde er nicht sterben.
    Sein Körper zuckte. Er wandte sich gewaltsam ab. Das Letzte, was er sah, war die Mumie im grellen Sonnenschein; das Letzte, was er spürte, war der sandige Boden unter dem brennenden Gesicht.

    Henry Stratford blieb eine ganze Weile regungslos stehen. Er sah auf den Leichnam seines Onkels hinab, als könnte er nicht glauben, was er sah. Nicht er hatte das getan. Ein anderer hatte seiner Frustration Luft gemacht und diese gräßliche Tat begangen. Ein anderer hatte den silbernen Kaffeelöffel in das Glas mit dem uralten Gift getaucht und dann in Lawrences Kaffeetasse selbst.
    Nichts bewegte sich im staubigen Sonnenlicht. Die winzigen Staubteilchen schienen bewegungslos in der heißen Luft zu verharren. Nur ein leises Geräusch war in der Kammer zu hö-

    ren: so etwas wie ein Herzschlag.
    Einbildung. Jetzt galt es, logisch zu handeln. Jetzt galt es, da-für zu sorgen, daß seine Hände aufhörten zu zittern und daß ihm der Schrei nicht über die Lippen kam. Er fühlte ihn bereits
    – den Schrei, der niemals aufhören würde, sollte er ihn he-rauslassen.
    Ich habe ihn umgebracht. Ich habe ihn vergiftet.
    Und damit hat das große, böse und nachgiebige Hindernis für meine Pläne aufgehört zu existieren.
    Bück dich; überzeuge dich. Ja, er ist tot. Mausetot.
    Henry richtete sich auf, kämpfte gegen eine plötzliche Woge der Übelkeit und nahm rasch mehrere Dokumente aus der Aktentasche. Er tauchte

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