Die Mumie
den Federhalter seines Onkels ein und schrieb den Namen Lawrence Stratford rasch und fein säuberlich darunter, wie er es bei unwichtigeren Dokumenten früher schon häufig getan hatte.
Seine Hand zitterte heftig, aber um so besser. Denn sein Onkel hatte gerade wieder einen Anfall gehabt. Als er fertig war, sah das Gekritzelte wirklich gut aus.
Er legte den Federhalter weg, machte die Augen zu und versuchte wieder, sich zu beruhigen. Er hatte jetzt nur einen Gedanken: Es ist vollbracht.
Doch dann glaubte er plötzlich, daß er alles ungeschehen machen konnte! Daß das Ganze nur ein Impuls gewesen war, daß er die Zeit zurückdrehen konnte, bis sein Onkel wieder lebte. Dies alles konnte unmöglich geschehen sein! Gift… Kaffee… und Lawrence tot!
Dann überkam ihn die Erinnerung, rein und still und höchst willkommen, an den Tag vor einundzwanzig Jahren, als seine Cousine Julie zur Welt kam. Sein Onkel und er hatten gemeinsam im Salon gesessen. Sein Onkel Lawrence, den er mehr liebte als seinen Vater.
»Aber du sollst wissen, daß du immer mein Neffe sein wirst, mein geliebter Neffe…«
Großer Gott, verlor er den Verstand? Einen Augenblick wußte er nicht einmal, wo er war. Er hätte schwören können, daß noch jemand mit ihm in dieser Kammer war. Aber wer?
Das Ding im Sarg. Sieh es nicht an. Wie ein Zeuge. Kümmere dich um das Nächstliegende.
Die Papiere sind unterschrieben, die Aktien können verkauft werden, und jetzt hat Julie nur noch mehr Grund, den dummen Tölpel Alex Savarell zu heiraten. Und Henrys Vater um so bessere Gründe, Stratford Shipping hundertprozentig zu übernehmen.
Ja. Ja. Aber was sollte er jetzt machen? Er sah wieder auf den Tisch. Alles wie es war. Und die sechs funkelnden Kleopatra-Goldmünzen. Ah, ja, nimm eine. Rasch steckte er sich eine in die Tasche. Leichte Röte wärmte sein Gesicht. Ja, die Münze mußte ein Vermögen wert sein. Und er konnte sie in sein Zigarettenetui stecken; einfach zu schmuggeln. Gut.
Und jetzt so schnell wie möglich raus hier. Nein, er dachte überhaupt nichts. Sein Herz raste. Nach Samir rufen, das schien ihm angemessen. Etwas Schreckliches ist mit Lawrence geschehen. Gehirnschlag, Herzanfall, schwer zu sagen!
Und diese Zelle ist wie ein Backofen. Ein Arzt muß kommen, sofort.
»Samir!« schrie er und richtete seinen Blick starr geradeaus wie ein Schauspieler im Augenblick des Schocks. Sein Blick fiel wieder direkt auf das grimmige, abscheuliche Ding in seinen Leinenbandagen. Sah es ihn etwa an? Hatte es unter den Bandagen die Augen offen? Lächerlich! Dennoch schlug die Einbildung eine schrille Note der Panik in ihm an, die seinem nächsten Hilferuf genau den richtigen Tonfall verlieh.
Der Angestellte las verstohlen die neueste Ausgabe des London Herald, die er sorgsam hinter dem dunkel gebeizten Schreibtisch verborgen hielt. Wegen der Aufsichtsratssitzung war es gerade still im Büro, das einzige Geräusch war das ferne Klappern einer Schreibmaschine.
FLUCH DER MUMIE WIRD
SCHIFFSMAGNAT STRATFORD ZUM VERHÄNGNIS
»RAMSES DER VERDAMMTE« HOLT ALLE,
DIE SEINEN SCHLAF STÖREN
Wie sehr doch die Tragödie die Phantasie der Öffentlichkeit angeregt hatte. Es war unmöglich, einen Schritt zu tun, ohne eine Schlagzeile auf der Titelseite zu sehen. Und wie die Bou-levardblätter sie ausschmückten und hastig angefertigte Skiz-zen von Pyramiden und Kamelen und der Mumie in ihrem Holzsarg und dem unglücklichen Mr. Stratford anfertigten, der zu ihren Füßen lag.
Der arme Mr. Stratford, der so ein anständiger Arbeitgeber gewesen war und an den man sich jetzt wegen seines aufsehen-erregenden und sensationellen Todes erinnerte.
Gerade als sich das Aufsehen etwas gelegt hatte, sorgten neue Schlagzeilen für erneute Aufregung: ERBIN TROTZT DEM FLUCH DER MUMIE
»RAMSES DER VERDAMMTE« HÄLT EINZUG IN LONDON
Der Angestellte blätterte leise die Seite um und legte sie wieder auf die Breite einer Spalte zusammen. Schwer zu glauben, daß Miss Stratford alle Schätze nach Hause brachte, damit sie in ihrem eigenen Haus in Mayfair ausgestellt wurden. Aber ihr Vater hatte es auch immer so gemacht.
Der Angestellte hoffte, man würde ihn zu dem Empfang einla-den, aber er wußte auch, daß dies praktisch ausgeschlossen war, obwohl er seit über dreißig Jahren für Stratford Shipping arbeitete.
Man stelle sich vor, eine Büste von Kleopatra, das einzig existierende authentische Porträt. Und frisch geprägte Münzen mit ihrem Abbild und Namen. Ah, wie
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