Die Mumie
gemacht?
Hatte er etwas Übernatürliches in der kleinen Felskammer gespürt, in der Lawrence Stratford den Tod gefunden hatte?
Henry kämpfte sich schweigend durch die Menge und achtete nicht auf das lärmende, qualmende Aufleuchten der Kameras.
Die Beamten, die seine wenigen Koffer kontrollierten und ihn dann weiter winkten, beobachtete er mit eisiger Ungeduld.
Sein Herz dröhnte ihm in den Ohren. Er wollte einen Drink. Er sehnte sich nach seinem ruhigen Haus in Mayfair und nach Daisy Banker, seiner Geliebten. Er wollte alles, nur nicht die gräßliche Fahrt mit seinem Vater. Er wich Randolphs Blick aus, als er in den Rolls einstieg.
Als der schwerfällige Wagen sich durch den dichten Verkehr bewegte, konnte er einen Blick auf Samir Ibrahaim werfen, der eine Gruppe schwarzgekleideter Männer begrüßte – zweifellos Wichtigtuer vom Museum. Welch ein Glück, daß der Leichnam von Ramses dem Großen viel mehr Interesse hervorrief als der Leichnam von Lawrence Stratford, der, wie Lawrence es gewünscht hätte, ohne Zeremonie in Ägypten beigesetzt worden wäre.
Großer Gott, sein Vater sah gräßlich aus, so, als wäre er über Nacht um zehn Jahre gealtert. Er wirkte sogar ein wenig zerzaust.
»Hast du eine Zigarette?« fragte Henry schroff.
Ohne ihn anzusehen, holte sein Vater eine kleine, dünne Zigarre und ein Feuerzeug heraus.
»Die Hochzeit ist immer noch das Wichtigste«, murmelte Randolph. »Eine frischgebackene Braut hat schlicht und einfach keine Zeit, ans Geschäft zu denken. Und ich habe deshalb arrangiert, daß du zu ihr ziehst. Sie kann nicht allein bleiben.«
»Großer Gott, Vater, wir leben im zwanzigsten Jahrhundert!
Verdammt, warum kann sie nicht allein bleiben!«
In dem Haus wohnen, noch dazu mit dieser abscheulichen Mumie in der Bibliothek? Der Gedanke war ihm zuwider. Er machte die Augen zu, genoß stumm die Zigarre und dachte an seine Geliebte. Eine Abfolge gestochen scharfer erotischer Bilder ging ihm rasch durch den Kopf.
»Du tust, was ich dir sage«, sagte sein Vater. Aber der Stimme mangelte es an Überzeugung. Randolph sah zum Fenster hinaus. »Du bleibst dort und behältst sie im Auge und siehst zu, daß sie so rasch wie möglich in die Heirat einwilligt. Sorge dafür, daß sie nicht von Alex getrennt wird. Ich glaube, Alex fängt an, ihr ein wenig auf die Nerven zu gehen.«
»Kein Wunder. Wenn Alex nur ein bißchen Grips hätte…«
»Die Heirat ist gut für sie. Sie ist für alle Beteiligten gut.«
»Schon gut, schon gut, lassen wir das!«
Schweigend fuhren sie weiter. Er hatte noch Zeit für ein Abendessen mit Daisy und Zeit, sich auszuruhen, bevor er sich bei Flint’s an den Spieltisch setzte, vorausgesetzt natürlich, er konnte noch ein wenig Bargeld aus seinem Vater her-ausholen…
»Er hat doch nicht gelitten, oder?«
Henry zuckte leicht zusammen.
»Was? Wovon redest du?«
»Dein Onkel?« sagte sein Vater und drehte sich zum ersten Mal zu ihm um. »Der verstorbene Lawrence Stratford, der gerade in Ägypten ums Leben gekommen ist? Ob er leiden muß-
te, will ich wissen, oder ist er ruhig und friedlich gestorben?«
»In der einen Minute ging es ihm noch gut, und im nächsten Augenblick lag er auf dem Boden. Er war innerhalb von Sekunden tot. Wieso fragst du das?«
»Du bist wirklich ein sentimentaler junger Mann, das muß ich schon sagen.«
»Ich hätte nichts tun können!«
Einen Augenblick erinnerte er sich an die Atmosphäre in der kleinen Zelle, an den beißenden Geruch des Gifts. Und an das Ding, das Ding im Sarg, und die schreckliche Vorstellung, daß es ihn beobachtet hatte.
»Er war ein dickköpfiger alter Narr«, sagte Randolph fast flü-
sternd. »Aber ich habe ihn gern gehabt.«
»Wirklich?« Henry drehte sich unvermittelt um und sah seinem Vater ins Gesicht. »Er hat ihr alles vermacht, und du hast ihn gern gehabt!«
»Er hat uns beide schon vor langer Zeit ausreichend versorgt.
Es hätte genug sein können, mehr als genug…«
»Verglichen mit dem, was sie geerbt hat, ist es ein Almosen!«
»Darüber will ich nicht diskutieren!«
Geduld, dachte Henry. Geduld. Er lehnte sich in die weichen grauen Polster zurück. Ich brauche mindestens hundert Pfund, und so werde ich sie nicht bekommen.
Daisy Banker beobachtete durch die Spitzenvorhänge, wie Henry unten aus dem Taxi ausstieg. Sie bewohnte eine schlauchartige Wohnung über der Music Hall, wo sie jeden Abend von zehn Uhr bis zwei Uhr morgens sang: sie war wie ein weicher, reifer
Weitere Kostenlose Bücher